Das Haus der verlorenen Herzen
Nardo später mit süßsaurer Miene.
»Ich kann nicht lügen!« Dr. Volkmar ließ ihn stehen – eine bewußte Brüskierung. »Auch für Millionen nicht! Ein Kranker in dieser Lage hat das Recht auf Wahrheit!«
Achmed ibn Thaleb ging es gut. Auf den Monitoren, über die man alle seine Körperfunktionen überwachte, zeigte sich ein klares Bild. Nach anfänglichem Fieberanstieg, der die Abwehrreaktion des Körpers signalisierte, die man sofort mit Injektionen von Corticosteroiden bekämpfte, schien sich Thalebs Natur daran zu gewöhnen, daß ein neues Herz das Blut kraftvoll durch die Adern pumpte. Sein Allgemeinzustand besserte sich zusehends. Wenn Volkmar an sein Bett trat, faßte er mit beiden Händen nach seiner Hand und hielt sie fest, solange Volkmar mit ihm sprach. Manchmal hatte man den Eindruck, er wolle sie sogar küssen: diese begnadeten Hände, die ihm ein neues Leben geschenkt hatten.
»Noch haben wir nicht gewonnen, Mr. Thaleb«, sagte Volkmar. »Die große Prüfung kommt erst noch: Wenn Sie aus dem Bett können, wenn Sie gehen dürfen, wenn ich Sie aus der völlig sterilen Welt, in der Sie jetzt leben, hinauslasse in die von Bakterien verseuchte Freiheit. Was dann passiert, weiß ich noch nicht. Wir wissen dann nur, daß Ihr Herz angewachsen ist und schlägt und daß Sie lebenslang Medikamente schlucken müssen. Ob Sie aber zum Beispiel eine eitrige Mandelentzündung überleben, das wird sich erst zeigen. So ist die Lage, Mr. Thaleb.«
»Ich werde mich davor schützen, Doktor.«
»Wie? Wollen Sie ständig in einem Plastikanzug herumlaufen? Eine Mumie in Folie? Wollen Sie nur durch Filter atmen?«
»So schlimm ist das?« fragte Thaleb leise. Er sah Volkmar aus seinen braunen Rehaugen an, bettelnd und um ein gutes Wort flehend.
»Wir werden versuchen, Ihrem Körper trotzdem eine bestimmte Abwehrkraft zu erhalten, die allerdings nicht das Transplantat gefährden darf. Wir können jetzt nur abwarten, Mr. Thaleb, und immer wieder Mut haben.«
»Den habe ich, Doktor!« Thaleb sah Volkmar dankbar an. »Allah beschütze Sie!«
Im Flügel III des Kinderheimes, im siebenten Stock, hinter den innen vermauerten Fenstern, war der Aufstand ausgebrochen. Die ›Kandidaten für die Fremdenlegion‹ rebellierten gegen ihre Behandlung. Sie sangen mit aller Lautstärke, brüllten dann und schlugen gegen die Türen. Als sich niemand um sie kümmerte, rissen sie die Waschbecken von den Wänden, zertrümmerten sie, drehten alle Hähne auf und setzten ihre Zimmer unter Wasser.
Bei den Wachmannschaften gab es Großalarm. Mit sieben Mann rückten sie an, dicke Gummischläuche in den Händen, und knüppelten die tobenden Gefangenen Zimmer nach Zimmer zusammen. Dann schleifte man die Besinnungslosen in die ›Turnhalle‹, entfernte dort alle Geräte und überließ sie sich selbst. Hier gab es nichts mehr zu zerstören. Die Wände waren kahl bis auf die Sprossenleitern. Es brachte nichts ein, diese abzureißen, mit Holzlatten kann man keine Betonmauern aufbrechen.
»Ich habe das kommen sehen, Don Eugenio«, sagte Dr. Nardo. Er stand hinter Soriano, der die verwüsteten Zimmer besichtigt hatte und sich berichten ließ, daß die dreiunddreißig Männer gerade dabei waren, mit den nun doch losgerissenen Sprossen gegen die Wände zu schlagen. Es war ein Höllenlärm – aber er drang nur ein paar Meter weit. Die Schallisolierung war vorzüglich. »Diese Männer werden nie resignieren und sich in ihr unbekanntes Schicksal ergeben. Wir müssen ihnen etwas bieten. Wein, Unterhaltung – vielleicht einen Kinoabend. Langeweile führt zu einem Aggressionsstau.«
»Morgen ist Weihnachten.« Soriano ging zurück in den Flur. Hauseigene Handwerker flickten die Wasserleitungen und schlossen neue Waschbecken an. »Ich will sehen, wie ich sie überraschen kann …«
Es wurde ein denkwürdiges Weihnachtsfest.
Obwohl Thaleb Mohammedaner war, wischte er sich die Tränen vom Gesicht, als über ein Mikrophon der Kinderchor des Heimes Weihnachtslieder sang. Eine Rundanlage übertrug die hellen Stimmen in jedes Zimmer, auf jedem Nachttisch brannten Kerzen, nur bei Thaleb nicht – wegen möglicher Infektionen. Für ihn leuchtete auf dem Bildschirm eine große, dicke Kerze, ein Kunstwerk aus Wachs, mit bunten Engeln bemalt. Ob das nun christlich war oder nicht – daß Thaleb so etwas wieder sehen konnte, noch sehen und hören konnte, erschütterte ihn bis in die Tiefe seines neuen Herzens. Er weinte vor Glück und beschloß, noch einmal
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