Das Haus der verlorenen Kinder
dass ich Gespenster sehe. Ich weiß, dass er uns nicht hat ausfindig machen können, es sei denn, er ist ihr im Zug gefolgt, aber ich spüre es die ganze Zeit. Dass hier jemand ist … dass uns jemand beobachtet …
Bridget hat sämtliche Metallgegenstände im Haus zusammengesammelt, die sie jetzt auf dem mit Zeitungen ausgelegten Küchentisch poliert und nebenbei Radio hört. Aber sie musste sich schon vom einen Ende des Tischs ans andere umsetzen, weil sie an der Stelle, an der sie anfangs saß, die Tür nicht im Auge hatte. Ich habe meine Jugend definitiv hinter mir, denkt sie. Heute habe ich das Radio gleich auf Radio 2 eingestellt, habe nicht einmal schnell den Frequenzbereich nach etwas Interessanterem durchsucht. Niemals werden sie mich dazu bringen, dass ich Radio 4 höre, aber diesen Sender mag ich. Sie haben gerade sechs Soul Tracks in voller Länge gebracht – echten Soul aus den 1960er Jahren –, und ich habe einen Großteil der Texte mitsingen können. Welcher hat mir am besten gefallen? Marvin Gaye oder Snoop Dogg? Muss ich das wirklich fragen?
Das Telefon klingelt, und sie ist überrascht, obwohl sie es mit heruntergebracht hat. Meistens hat man hier unten im Erdgeschoss keinen Empfang, aber ein Balken auf dem Display neben der 0207er Nummer zeigt an, dass die Verbindung hergestellt wird. Ich vermisse meine Mutter, geht ihr plötzlich aus heiterem Himmel durch den Kopf. Sie nimmt ab.
»Hallo?«
»Du hast noch eine letzte Chance«, sagt er.
Sie schließt die Augen. Wann hört er endlich damit auf?
»Du kannst mir sagen, wo du bist, oder ich werde dich finden.«
Atme weiter.
»Du hältst dich wohl für verdammt gescheit, nicht wahr, Bridget?«
Reagiere gar nicht. Sprich nicht mit ihm. Wenn du mit ihm sprichst, ermuntert ihn das nur. Lass es sein.
»Bitte«, sagt sie, »lass mich in Ruhe.« Sie hatte beabsichtigt, dass es stark und entschieden klingen sollte. Hört stattdessen den flehenden Tonfall, den sie meinte, mit ihrem alten Leben hinter sich gelassen zu haben.
Seine Stimme wird lauter, nachdem er sie gehört hat, schwillt zum Brüllen an. Sie kann ihn geradezu vor sich sehen, an seinem Schreibtisch, wie er in sein Handy schreit und die Blicke seiner Kollegen gar nicht mitbekommt, das Gesicht vor Wut rot angelaufen, die Sehnen an seinem Hals hervorstehend wie Drahtseile.
»Damit kommst du nicht durch, Bridget! Ich kriege dich! Ich kriege dich, verdammt!«
Sie fröstelt. Schiebt den Daumen auf die Taste und unterbricht die Verbindung. Drückt oben auf den Knopf und schaltet das Handy aus. Sitzt da und starrt das Telefon an, als wäre es ein geliebtes Haustier, das plötzlich herumgefahren ist und sie gebissen hat.
Sie überlegt, ob sie es nicht einfach in den Müll schmeißen soll. Ich werde mir ein neues kaufen, ich werde die Nummer wechseln, dann soll er schauen, wo er bleibt. Kann sich für immer verpissen. Er kann …
Aber andererseits möchte ich ja erreichbar sein. Ich muss vernünftig bleiben.
Okay. Dann also die SIM-Karte. Ich werde die SIM-Karte wegwerfen. Das mache ich. Mehr ist ja gar nicht nötig.
Sie steht auf, geht durch die Küche und zieht eine Schublade auf. Findet das Nudelholz. Klappt das Handy hinten auf und holt die alte Karte heraus. Ich mache es jetzt gleich, denkt sie. So zwinge ich mich dazu. So bleibt mir gar nichts anderes übrig, als morgen nach Wadebridge zu fahren und mir eine neue zu kaufen, weil das Telefon ohne ja gar nicht funktioniert. Ich mache es gleich.
Sie legt den Chip auf das Backbrett: weiß durchzogener Marmor, hart und kalt. Hebt den Arm und schlägt mit aller Kraft mit dem Nudelholz zu. Sie macht es wieder und wieder, stellt sich vor, dass es Kierans Kopf ist. Ich hasse dich. Ich hasse dich. Ich hassehassehasse dich. Die Karte springt hoch, bekommt Dellen, wird verbogen, bekommt Risse. Sie macht weiter, bis sie in Stücke zerbricht, vernichtet und tot ist. Da. Du wirst mich nie finden. Wirst mich niemals finden. Niemals.
Ein Lachen. Draußen in der Eingangshalle. Bridget erstarrt. Dieses verdammte Haus.
Sie lauscht. Nichts. Wieder ein Lachen. Okay. Okay, ich habe die Nase voll. Ich habe die Nase voll von diesem verdammten Haus, das mich ständig zum Narren hält. Ich gehe und schaue nach, aber ich werde keine Angst haben. Siehst du? Ich habe ein Nudelholz in der Hand. Wenn du mich ärgern willst, dann versuch es nur, aber du wirst mir keine Angst einjagen.
Sie geht zur Tür, reißt sie auf und betritt mit erhobenem Nudelholz das
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