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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
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Speisezimmer.
    Yasmin schreit auf und bleibt stehen, sieht bestürzt aus. Jago Carlyon prallt gegen sie, wirft sie um, sodass sie gegen die Knie ihrer Mutter fällt.
    »Da schau her!«, sagt sein Vater. »Jago! Schnell weg von dieser verrückten Frau, bevor sie dir noch den Kopf einschlägt.«
    Bridget lässt das Nudelholz sinken, läuft vor Verlegenheit rot an. »Uups.«
    »Begrüßen Sie alle Ihre Besucher so?«
    »Ich bin kein Besucher«, stellt Yasmin fest.
    »Richtig. Dann schlägt sie dich also jeden Tag, wenn du von der Schule nach Hause kommst, mit dem Nudelholz?«
    Bridget kommt sich dumm vor, ist peinlich berührt.
    »Nein«, antwortet sie. »Manchmal peitsche ich sie aus. Nur, um für Abwechslung zu sorgen. Du bist früh dran. Ich habe dich frühestens in einer Stunde zurückerwartet.«
    »Ach so«, sagt Mark. Er sieht ein wenig amüsiert aus. »Tom Gordhavo hat angerufen und gesagt, dass ich hier nach der Elektrik schauen soll, deshalb habe ich die beiden mitgebracht, solange es noch ein wenig hell ist.«
    »Chloe hat die Grippe«, erklärt Yasmin.
    »Eine schlimme Erkältung«, korrigiert Mark sie.
    »Deshalb ist sie heute nicht in die Schule gekommen.«
    »Ja. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich Jago mitgebracht habe. Ich dachte, ich halte ihn Tina lieber eine Weile vom Hals.«
    »Er ist mehr als willkommen«, antwortet Bridget. Jago, braune Augen und ein Pony, der ständig darüber fällt, sodass er ihn zur Seite schütteln muss, sieht Yasmin an, als bestünde sie aus Schokolade und Cocktailwürstchen. Er ist ein Jahr jünger als sie, und in seinem Alter verleihen diese zwölf Monate Unterschied einer Frau eine Aura der Kultiviertheit, die sie erst wieder erreichen wird, wenn sie an die Vierzig ist.
    »Komm schon«, sagt Yasmin. »Ich zeige dir meine Barbies.«
    Bridget unterdrückt ein Schmunzeln, als er brav hinter ihr hertrottet. Sie schaut zu Mark hinüber und sieht, dass es ihm genauso geht. »Ich glaube nicht, dass er deshalb gleich schwul wird«, stellt er fest, als die beiden verschwunden sind.
    »Eher eine typisch englische Tunte«, antwortet Bridget. »Einer, der lieber Zeit mit seiner Freundin als im Pub mit seinen Kumpels verbringt.«
    Mark lacht. Er hat Jagos Augen, stellt sie fest: dunkel und freundlich. Sie kann sich gar nicht mehr erinnern, wann ein Mann sie zum letzten Mal freundlich angesehen hat. Gleichgültigkeit, Gewalt, leichte Verachtung, aber keine Freundlichkeit. Es ist Jahre her. Über ein Jahrzehnt. Es hat vor Kieran Männer gegeben: Männer, die sie so angeschaut haben. Aber sie wollte »mehr«. Dieses nebulöse »Mehr«, das einen auffrisst und blind macht für die Realität. Selbst am Anfang sah er sie mit Besitzerblick, nicht etwa beschützend an – ach, hätte sie das damals nur richtig gedeutet. Herrgott, wie konnte ich nur so blind sein! Habe ich wirklich zu jenen dummen Frauen gezählt, die glauben, dass ein Mann, bloß weil er aufregend ist, irgendwie auch etwas wert sein muss? Hollywood hat einiges auf dem Kerbholz.
    Er streckt die Hand aus. Einen Augenblick glaubt sie, er möchte ihre schütteln, aber seine Handfläche ist nach oben gerichtet.
    »Macht es Ihnen etwas aus? Ich komme mir ein wenig wie ein Seehundbaby vor, wenn Sie das in der Hand halten.«
    Sie blickt auf die Waffe in ihrer Hand und lacht wieder verlegen. »Erzählen Sie niemandem, dass Sie mich so gesehen haben, ja?«, fragt sie und reicht ihm das Nudelholz. »Darüber würde ich nie hinwegkommen.«
    »Abgemacht. Solange Sie Stillschweigen über die Vorliebe meines Sohnes für Puppen wahren. Geht es Ihnen gut? Sie haben irgendwie bestürzt ausgesehen, als wir hereingekommen sind.«
    »Ach. Na ja … Nein, es ist nichts …«, hebt sie an und bricht in Tränen aus.
    »Oh«, sagt Mark. Dann fügt er hinzu: »Ach, Bridget, es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht …«
    »Nein«, antwortet sie und hört, wie weinerlich ihre Stimme klingt, »es ist nicht … oh, Gott, entschuldigen Sie.«
    Wir sind dermaßen britisch, denkt sie. Wir sehen Tränen, und wir können an nichts anderes denken, als uns zu entschuldigen.
    »Ist schon gut«, sagt er und legt ihr die freie Hand auf die Schulter. Überschreitet die Grenze nicht, versucht nicht, sie in den Arm zu nehmen oder sinnlose Versprechungen zu machen. Weiß, dass er nur ein Bekannter, nicht etwa ein Freund ist, und verhält sich dementsprechend. Was sie nur noch stärker zum Weinen bringt. Es ist so lange her. So lange her, seit jemand mich in die

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