Das Haus der verlorenen Kinder
es ihr! Ich werd’s ihr sagen, was du gemacht hast, und sie wird es dir schon heimzahlen!«
»Ach, sei vernünftig, Lily«, sagt Felicity. »Begreifst du denn nicht? Hast du es nicht bemerkt? Nicht ein einziges Mal. Sie hat dich nicht ein einziges Mal hier besucht. Alle anderen Kinder – oh, ja. Bei der ersten Gelegenheit sind ihre Eltern gekommen. Aber bei dir? Kapierst du es immer noch nicht?«
Da rutschen mir Wörter heraus, und ich kann sie nicht aufhalten, denkt sie. Die sind nicht für ihre Ohren bestimmt. Die sind für Patrick gedacht. Ich sollte aufhören, aber ich kann nicht. Ich kann nicht. Meine Gefühle … ich sollte sie nicht herauslassen … aber ich hasse dieses Kind. Ich hasse es. Der Kuckuck im Nest, der mir aufgezwungen wurde. Sie hat nichts als Unglück gebracht, seit sie hierher gekommen ist. Sie ist ein Fluch auf meinem Haus.
Wieder schüttelt sie das Mädchen, sieht, dass Lilys Kopf wie der einer Stoffpuppe nach vorn und hinten kippt, verspürt dabei eine krankhafte Genugtuung.
»Deine Mutter will dich nicht«, sagt sie und genießt es, diese Wörter auszusprechen. »Wenn sie dich haben wollte, dann wäre sie längst gekommen und hätte dich abgeholt.«
37
Steve hat einen ruhigen Tag. Für diesen Abend hat er im Pitcher and Piano in Holborn eine Falle ausgelegt für einen Sachbearbeiter der British Telecom, dessen Frau ihn verdächtigt, im Büro an mehr als nur an seinem Schreibtisch zu hängen. Aber diesen Nachmittag hat er mit Telefonaten zugebracht, um seine Klienten jeweils auf den neuesten Stand zu bringen.
Es wird schon dunkel, stellt er fest, als er auf der Liste einen Haken hinter Darren Keating setzt (Baumaterialien; verdächtigt seinen Partner – zu Recht – der Veruntreuung von Firmengeldern). Heutzutage scheint sich der Winter ewig hinzuziehen. Anfang Januar haben wir ja noch nicht einmal das Schlimmste hinter uns, aber ich bin mir sicher, dass es früher, als ich ein Kind war, ein paar Anzeichen gab, dass er bis März vorüber sein wird. Heutzutage scheinen wir von September bis Mai unter einem bleiernen, düsteren Himmel zu leben – so viel zum Thema globale Erwärmung.
Er wählt die nächste Nummer auf seiner Liste. Wartet, fingert an seinem Kugelschreiber herum, während es klingelt.
»Kieran Fletcher.« Steve hört, dass im Hintergrund Telefone läuten und Anweisungen gebrüllt werden.
»Hallo, Mr Fletcher.«
»Ja.«
»Steve Holden. Trident Investigations.«
»Ach, richtig. Bleiben Sie dran.«
Der Lärm im Hintergrund wird leiser, verschwindet ganz. »Hallo«, sagt Kieran Fletcher. »Gibt es Neuigkeiten?«
»Nichts besonders Erfreuliches, tut mir leid. Ihre Frau scheint ihre Spuren ziemlich gut verwischt zu haben. Es wäre natürlich hilfreich, wenn sie eine Kreditkarte oder Treuekarte oder dergleichen hätte, aber …«
Offenkundig hat sie nicht viel zum Leben gehabt, aber das fügt er nicht hinzu. Und wie viele Leute, die knapp bei Kasse sind, gehört sie zu jenen, die lieber alles bar bezahlen. Es müsste mehr Menschen klar sein, wie leicht sie anhand ihres Einkaufsverhaltens aufzuspüren sind. Mit wie vielen Ehebrechern hatte er es nicht schon zu tun gehabt, die ihre Rechnungen zwar bar bezahlten, aber nicht widerstehen konnten, die Payback-Punkte zu kassieren …
»Wenn Sie sie als vermisst melden könnten«, sagt er.
»Ich hab es versucht«, antwortet Kieran. »Konnte es nicht. Die Polizei hat sie auf ihrem Handy angerufen, und sie ist drangegangen, deshalb gilt sie nicht als vermisst.«
Da ist etwas, womit du hinter dem Berg hältst, denkt Steve Holden. »Tja, ich kann Ihnen nur den Vorschlag machen, dass Sie einen Antrag auf Besuchsrecht stellen.«
Ein verärgertes Schnauben am anderen Ende der Leitung. »Das nutzt mir ja viel, wenn ich keine Adresse habe.«
Wo er recht hat, hat er recht.
»Können Sie sie nicht durch ihr Handy ausfindig machen? Ich dachte, es gibt da so eine Satellitenortung …«
»Tja. Das wäre vielleicht möglich, wenn ich Kontakt zu ihrem Provider hätte, aber ich fürchte, die halten sich an so etwas wie Datenschutz.«
»Sie können nicht einmal herausfinden, wohin ihr die Rechnungen zugeschickt werden?«
»Nicht bei prepaid, Mr Fletcher.«
»Scheiße«, sagt Kieran.
»Tut mir leid.«
Schweigen.
»Wenn sie eine neue Nummer hätte, könnten wir herausfinden, wo die SIM-Karte gekauft wurde, aber ansonsten …«
»Sie können also im Grunde gar nichts tun?«
»Ich kann es weiter versuchen. Wenn Sie
Weitere Kostenlose Bücher