Das Haus der verlorenen Kinder
der Mäntel ab. Entscheidet sich schließlich für einen Mantel aus Harris Tweed, der lang genug ist, dass er ihr über die Knie reicht, aber nicht so lang oder so neu, dass er offenkundig als gestohlen auffällt. An einem Haken entdeckt sie ein großes wollenes Kopftuch. Sie breitet es auf dem Boden aus, legt ihre bescheidene Habe – ihre Stifte und ihren Zeichenblock, ein einzelnes, verknittertes und unscharfes Foto ihrer Mutter und eine Handvoll Bonbons aus ihrer Ration – in die Mitte und knotet es jeweils an den Ecken locker zusammen.
Wahrscheinlich wird die ein paar Tage gar nicht merken, dass ich fort bin, versucht sie sich selbst zu beruhigen. Ich habe es immer mal wieder geschafft, ihr einen ganzen Tag aus dem Weg zu gehen. Ich bekomme einen guten Vorsprung, während sie ihren Rausch ausschläft.
Auf Zehenspitzen schleicht sie zur Speisekammer, klappt die Brotbüchse auf und findet einen halben Laib schweres Vollkornbrot. Auf dem Regal liegt ein kleines Stück Cheddar Käse. Es ist mit Schimmel überzogen. Lily nimmt es herunter und kratzt den Schimmel mit dem Buttermesser ab. Wickelt das, was übrig bleibt, in ein weggeworfenes Stück Stoff und steckt es in die Manteltasche. Sie schneidet einen Teil des Brotlaibs ab. Den ganzen mitzunehmen, könnte Aufmerksamkeit erregen. Auf dem Boden sind Kartons vom Gemüsehändler mit Kochäpfeln aufgestapelt, die im Obstgarten hinter dem Teich geerntet und verstaut wurden, als Mrs Blakemore noch bei etwas klarerem Verstand war. Sie werden sauer sein, das weiß sie, und schwer zu verdauen, aber besser als gar nichts. Lily steckt vier in ihr Stoffbündel.
Es ist halb ein Uhr mittags, und der Himmel verändert sich bereits. Sie späht aus dem Fenster und schaut, ob die Wolken bedrohlich wirken. Vielleicht sollte ich ein Messer mitnehmen, überlegt sie. Ja, das sollte ich vielleicht. Ein Messer könnte nützlich sein. Ich weiß nicht, wozu, aber keiner büxt ohne ein Taschenmesser aus. Sie schleicht mit ihrem Bündel in die Küche hinüber. Hier ist es warm; der Küchenherd ist mit Reisig aus dem kleinen Wäldchen befeuert und hält das Herz des Hauses am Schlagen, auch wenn seine Seele längst auf und davon ist. Lily schlurft in ihren Socken über die Fliesen, zieht die oberste Schublade neben der Spüle auf und schaut hinein. Etwas Scharfes. Nichts aus Silber, obwohl ich das Silber später zu Geld machen könnte. Aber ich brauche etwas, was wirklich gut schneidet. Ich brauche etwas, was mir bei Gefahr von Nutzen ist.
»Hallo«, sagt eine Stimme hinter ihr.
Lily schnappt nach Luft und fährt herum. Mrs Blakemore steht in der Tür zum Speisezimmer, eine Hand am Türrahmen, um sich abzustützen, weil sie so sehr schwankt. Auf der linken Kopfseite sind ihre Haare zusammengedrückt, auf der anderen hängen sie locker herab. Sie mustert Lily von Kopf bis Fuß. Leckt sich über die Lippen, kneift sie zusammen.
»Du hast also ebenfalls vor, das Weite zu suchen?«
48
Mr Benson hat normalerweise eine blasse Gesichtshaut – das blutarme Aussehen eines Menschen, der nicht genügend Fleisch zu sich nimmt –, aber jetzt ist sie vor Wut dunkelrot angelaufen. Er steht mitten in dem Chaos, und seine Hand ist zur Faust geballt.
»Können Sie …«, brüllt er, »können Sie Ihr verdammtes Kind nicht unter Kontrolle halten?«
Bridget verschlägt es für kurze Zeit die Sprache. »Das war sie nicht – ich kann mir nicht vorstellen – das kann sie nicht …«, hebt sie schließlich an.
»Versuchen Sie es erst gar nicht!«, sagt er. »Ich möchte nichts davon hören.«
Das Zimmer ist in einem grässlichen Zustand. Einfach grauenvoll. Bilder des Zustands, in dem es sich befand, nachdem die Terrys abgereist waren, kommen ihr in den Sinn, aber das hier ist noch schlimmer. Es ist so – unerwartet.
Sie blickt auf Yasmin hinab, die sich an ihren Rockzipfel klammert, den Mund erstaunt aufgerissen. Sie kann das nicht gemacht haben, denkt sie. Sie war die ganze Zeit bei mir …
Wieder steht der Schrank offen. Darin kann sie den Inhalt der Koffer der Bensons auf dem Boden zusammengeknüllt liegen sehen, einige Kleidungsstücke hängen aus der Tür heraus auf den Teppich, Kleider, Schuhe und Taschen, ein Laptop und eine Videokamera, alles bis zur Unkenntlichkeit mit Puder überzogen.
Auf dem Fenstersitz liegen die Bestandteile eines Blackberry verstreut, als hätte man es mit ziemlicher Wucht dort hingeknallt.
Eine Vase aus blauem Glas ist gegen die Wand geschleudert worden.
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