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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
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verwandeln? Ihre Mutter pflegte sich hin und wieder ebenfalls zu betrinken, aber nie so hemmungslos. Ihre Mutter hatte zumindest so viel Anstand, angezogen zu sein, wenn sie sich bis zur Bewusstlosigkeit besoff.
    Dieses Mal laufe ich über die Felder. Ich halte mich von den Straßen fern, gehe quer durchs Moor. Keiner läuft im Winter durchs Moor. Keiner wird mich entdecken. Wenn ich weit genug komme, bevor es dunkel wird, werde ich es schaffen. Im Moor gibt es Schuppen und Unterstände für die Schafe. Darin kann ich übernachten. Ich nehme etwas Brot und Milch mit, und ich renne, bis ich über der Kuppe des Hügels bin. Ich werde immer nach Süden gehen – ich weiß, wo Süden ist –, bis ich ans Meer komme, dann muss ich nur nach links abbiegen und immer weiterlaufen.
    Sie schleicht die Treppe zum Dachboden hinauf, sucht ihren Koffer. Er ist in noch schlechterem Zustand als bei ihrer Ankunft; er ist mehrmals herumgeworfen und geschleift worden, und ein paar Mal hat sie sich sogar darauf gesetzt. Die linke Ecke des Deckels ist ganz eingerissen. Er wird keine weitere Reise durchhalten. Er wird ihr hinderlich sein, keine Hilfe. Ich werde das, was ich brauche, anziehen, und den Rest in einem Tuch zu einem Bündel zusammenschnüren. Wie eine Ausreißerin. Wie eine richtige Ausreißerin.
    Plötzlich ist sie ganz optimistisch. Genau, das habe ich bisher falsch gemacht. Ich hatte zu viel Gepäck dabei und habe damit Aufmerksamkeit erregt. Selbstverständlich fällt ein Kind mit einem Koffer auf: Jeder bemerkt es. Wenn ich ein paar Sachen in meine Taschen stecke und den Rest in einem Bündel mitnehme, werden sie mich nicht bemerken. Ich muss ja nicht viel zurücklassen. Ich bin bloß ein Kind, das daherläuft, und sie werden sich nicht die Mühe machen, mir Fragen zu stellen. Es gibt heutzutage Unmengen von Fremden hier auf dem Land. Die Einzigen, denen sie argwöhnisch gegenüberstehen, sind die, die ihrer Meinung nach möglicherweise deutsche Spione sein könnten.
    Lily leert den Koffer und zieht ihre Oberbekleidung aus. Da draußen wird es kalt sein. Schließlich ist sie nicht dumm. Sie hat sich ihr ganzes Leben lang mit vielen Kleiderschichten gegen die Kälte geschützt. Sie findet ihre zweite Jacke, ihre Sporthose, die zwei Paar Strumpfhosen, mit denen das Sozialamt sie damals im Mai ausstaffiert hat, als es richtig warm war. Sie zieht sie an, die Shorts unter den Rock, den Pulli über die Bluse, die Jacke über den Pulli, wie ein nicht zusammenpassendes Twinset. Vielleicht sollte ich ein paar Perlen mitgehen lassen, denkt sie. Die könnte ich verkaufen, sobald ich in Portsmouth bin, damit wir für eine Weile etwas zum Essen haben. Sie schmunzelt bei der Vorstellung und schiebt den Gedanken beiseite. Sie wird mich nur schnappen wollen, wenn sie mich für eine Diebin hält. Lieber nicht. Sie zieht die Socken über die Strumpfhosen und quetscht ihre Füße in die Riemchensandalen.
    Mum wird sich freuen, mich zu sehen, denkt sie. Deshalb ist sie nicht gekommen. Sie haben meine Papiere verschlampt, und sie weiß nicht, wo ich stecke. Wahrscheinlich sorgt sie sich halb zu Tode, weil sie nicht weiß, was mit mir passiert ist. Ich werde hingehen und an die Tür trommeln, und sie wird eine Minute brauchen, bis sie kommt, weil sie ja nicht wissen wird, wer es ist, und dann wird sie aufmachen, und wenn sie mich sieht, wird ihr Gesicht ganz verzerrt sein, und sie wird zu weinen anfangen, so, wie sie geweint hat, als sie mich zum Bahnhof brachte. Und sie wird sagen, wie groß ich doch geworden bin, und sie wird die Arme ausbreiten und gar nicht darauf achten, dass die Nachbarn vielleicht zuschauen, und mich gleich da auf der Straße, wo alle es sehen können, in die Arme schließen.
    Sie zieht die Sandalen wieder aus und trägt sie die Treppe hinunter, damit ihre Schritte nicht zu hören sind. Schleicht den Korridor entlang und die Treppe zum Speisezimmer hinunter, damit sie nicht noch einmal an dem Monster auf dem Sofa vorbeimuss.
    Hinter der Tür der Waschküche hängen abgelegte und vergessene Mäntel. Tweedmäntel für die Jagd und wollene zum Ausgehen in die Stadt; aufbewahrt für mögliche Besucher, die jedoch nie kommen. Sie weiß, dass da auch abgelegte Mäntel von Hugh dabei sein müssen; aus denen er herausgewachsen ist und die ihm zu klein geworden sind, aber groß genug für sie, wo sie jetzt so dick gepolstert ist, und die höchstwahrscheinlich niemand vermissen wird. Lily tastet die muffig riechende, raue Reihe

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