Das Haus der verlorenen Kinder
Händen. Sie kommt sich vor, als sei sie selbst wieder sieben Jahre alt: sieben und verletzlich und allein und kann nicht begreifen, warum keiner kommt und alles wieder gutmacht. So sollte es nicht sein. Wirklich nicht. Was ist passiert? Was habe ich getan? Was habe ich nur getan?
Ihr wird klar, dass sie laut weint, dass das Geräusch durch die Tür dringt, dass Yasmin es hört, und dass es alles noch schlimmer macht. Sie stößt sich von der Wand ab und stolpert tränenblind über den Teppich in Richtung Wohnzimmer. Jemand muss mir helfen. Irgendjemand. Bitte.
Das Telefon liegt mit dem Display nach oben auf dem Beistelltisch. Bridget greift danach, klickt sich durch das Adressbuch und wählt. Am anderen Ende klingelt es erst gar nicht, der Anrufbeantworter springt direkt an. »Hallo, hier ist Carol. Ich kann im Augenblick nicht ans Telefon gehen, aber bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.«
Der Klang ihrer Stimme bringt Bridget noch mehr zum Weinen. Nach dem Piepton schreit sie ins Telefon: »Wo bist du? Wo bist du denn? Du gehst überhaupt nicht mehr an den Apparat, und ich muss unbedingt mit dir reden! Ich weiß, dass du ständig auf dem Sprung bist, aber bitte! Du musst doch irgendwann mal zu Hause sein! Oh, Gott, Carol, es ist alles so schrecklich, und ich weiß nicht mehr weiter! Bitte! Bitte ruf mich an, wenn du das abhörst!«
Sie lässt sich auf das Sofa fallen, wiegt sich vor und zurück. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Echt nicht. Ich muss mit jemandem reden, weil ich sonst noch verrückt werde. Wer ist da? Ich bin so allein. Ich weiß nicht mehr weiter. Ich habe niemanden, mit dem ich reden kann. Aber ich muss mit jemandem reden.
Und weil Carol nicht erreichbar ist, ruft sie Mark an.
50
Ich hasse sie. Hasse sie. Hasse sie.
Sie hören mir nicht zu. Keiner hört auf mich. Verdammte Schweine. Ich bin jetzt vierunddreißig Jahre alt und führe ein solches Leben, und das alles nur, weil …
Immer setzt sie ihren Kopf durch. Nur ihren Kopf. So ist es heutzutage; die Feministinnen haben alle mit ihren Thesen angesteckt, und jeder schlägt sich auf die Seite der Frau. Hören sich ihre Meinung an und tun so, als hätte ich keine eigene. Tun so, als handele es sich dabei um die sakrosankte Wahrheit. Und ich, ich muss fünfzehn Jahre arbeiten für … für nichts. Für die Junggesellenwohnung, die niemand sauber macht, und ein Kind, das losschreit, sobald es mich sieht. Ich hatte dort im ersten Monat keine Laken für mein Bett, weil sie selbst die mitgenommen hat, und wenn ich endlich mal Zeit habe, um einkaufen zu gehen, verdammt, dann drohen die mit dem Zeigefinger: Das können Sie nicht machen, Mr Fletcher, laut Gesetz können Sie das nicht machen.
Was treibt denn dieses Arschloch da? Die Überholspur ist für schnelle Autos, verdammt, nicht für Opas, die mit ihrem Hut auf der Ablage dahinkriechen wollen. Ich gebe ihm zehn Sekunden, dann drücke ich auf die Lichthupe und leuchte ihm ordentlich hinten rein. Bei diesem Tempo werde ich die ganze Nacht unterwegs sein, verdammt. 250 Meilen. Wie viel Benzin werde ich da verbrauchen? Gut, dass ich den Tempomat habe, nicht etwa, dass ich ihn je einschalten werde – so ist es recht, Schwachkopf. Wird auch langsam Zeit.
Es wird ja wohl noch erlaubt sein, ihr Bescheid zu stoßen, oder? Ich habe immer nur gewollt, dass sie Bescheid weiß.
Was sie mir angetan hat. Mit ihren Lügen. Die Wahrheit so zu verdrehen, dass ich wie der Mistkerl dastehe, während sie genauso viel falsch gemacht hat wie ich. Auf meine Meinung haben sie aber nie gehört, oder? Wie sie immer weitergemacht hat mit diesem ewigen Genörgel, mich zur Weißglut trieb, bis bei mir der Verstand ausgesetzt hat. Sie muss es wissen. Sie wird mir zuhören müssen. Sie kann nicht einfach mein Leben zerstören und nicht begreifen, dass das Konsequenzen nach sich zieht.
Basingstoke. Schwefelgelbe Lichter und ein riesengroßer Verkehrskreisel. Was für ein Scheißkaff mag Basingstoke wohl sein, dass hier der Verkehr nachlässt? Wenigstens kann ich in den fünften Gang schalten. Wenn mir nur dieses Arschloch da aus dem Weg gehen würde. Was haben diese Leute bloß? Du überholst einen, und schon hast du den Nächsten vor dir, der die Spur blockiert und dahinkriecht, als würde die Scheißstraße ihm ganz allein gehören.
Sie wird überrascht sein, mich zu sehen. Seit zwei Wochen geht sie nicht mehr ans Telefon. Wahrscheinlich denkt sie, ich hätte aufgegeben und mich irgendwo verkrochen, um zu
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