Das Haus der verlorenen Kinder
klingt so, als sei sie jetzt endgültig übergeschnappt.
Quäk, Quäk, Quäk.
Sie hört, wie Mrs Blakemore tief Luft holt. Und als sie weiterspricht, klingt ihre Stimme kalt: »Na ja«, sagt sie, »du hast deine Entscheidung also getroffen. Ich weiß nicht, was ich dir angetan habe, aber …«
Quäk, Quäk, Quäk.
»Du warst schon immer der kleine Liebling deines Vaters«, sagt sie. »Nicht wahr? Ich denke, ich hätte dir nie vertrauen dürfen. Tja, ich hoffe, du hast eine schöne Zeit.«
Quäk. Quäk. Quäk.
»Aber es ist nicht nur für diese Ferien, stimmt’s?«, fragt Mrs Blakemore. »Das ist etwas, was du nicht begreifst. Das ist in Ordnung. Du kannst für immer verschwinden. Das ist mir egal. Du und dein dreckiger Vater: Dann geh, geh zu ihm. Als ob mir das etwas ausmachen würde! Ich habe ja immerhin einen Sohn. Ich habe zumindest noch einen Sohn.«
Lily versteht das nächste Wort. »Mummy!«, schreit Tessa im fernen Wantage.
Die Stimme, die ihr antwortet, klingt inzwischen übergeschnappt und hasserfüllt. Lily späht erneut hinter dem Vorhang hervor und sieht, dass Mrs Blakemore mittlerweile wieder aufrecht dasteht und mit der Faust gegen die Wand schlägt.
»Nein! Dafür ist es zu spät! Zu spät! Du hast dir dein Bett ausgesucht. Ich hoffe, es gefällt dir, darin zu liegen. Du widerliches, undankbares kleines Ding! Er wird dich im Stich lassen! Tessa, er wird dich im Stich lassen! Das hat er schon einmal gemacht und wird es wieder tun, aber glaub bloß nicht, dass du dann hierher zurückkommen kannst. Glaub bloß nicht, dass ich dich hierhaben will. Schlag dir das aus dem Kopf! Du bist nicht mehr …«
Sie verstummt. Hält den Hörer ein Stück von ihrem Ohr entfernt und betrachtet ihn mit erstaunter Miene. Drückt ihn sich wieder ans Ohr. »Tessa? Tessa?«
Tessa hat aufgelegt.
Schreiend durchquert Felicity Blakemore den Salon und bleibt vor der Hausbar stehen. Den Keller hat sie schon fast geleert, den Keller ihres Vaters, und es kommt kein Nachschub über den Ärmelkanal, aber da stehen noch immer Portwein und Armagnac aus dem letzten Jahrhundert, seit über fünfzig Jahren geschätzt, gedreht und für einen speziellen Anlass aufbewahrt, und diese Flaschen kommen ihr jetzt gelegen, während der Rest der Welt auf dem Trockenen sitzt. Sie schluchzt laut auf, die Lippen feucht und formlos, als sie nach der Flasche greift. Sie hat sich in eine Groteske, in ein Ungeheuer verwandelt.
Mit zittriger Hand schenkt sie sich einen großen Teil der noch zu einem Viertel gefüllten Flasche in einen geschliffenen Schwenker ein und führt ihn zum Mund. Leert ihn mit einem Zug. Schwankt, während sie schluckt, und drückt sich das Glas gegen die Brust.
»Nein, nein, nein, nein«, stöhnt sie. Dicke Tränen laufen ihr über das Gesicht, tropfen ihr vom Kinn. »Scheißkerl«, sagt sie. Und schleudert das Glas in den Kamin.
Lily ist hinter dem Vorhang erstarrt. Sie darf mich nicht entdecken, denkt sie. Wenn sie mich entdeckt, wird ihr klar, dass ich sie belauscht habe …
»Waaaah«, stößt Mrs Blakemore aus. Nimmt sich ein neues Glas, füllt es wieder und stolpert zum Sofa hinüber. Lässt sich darauf fallen, die Füße platt auf dem Boden, die Knie gespreizt, als wolle sie eine Kuh melken. »Verraten«, sagt sie laut zu den Wänden und der stummen Beobachterin. »Ich habe nichts getan. Was habe ich getan? Was habe ich bloß getan?«
Sie sackt nach vorn, hält sich den Magen. Wieder hallt ein Schluchzen durch das Zimmer. »Allein. Allein. Dreckige kleine Hure. Dreckige kleine Hure, die bring ich um. Ich wünschte, sie wäre tot.«
Lily spürt, dass ihr die Nackenhaare zu Berge stehen. Sie weiß nicht, ob Mrs Blakemore von Tessa oder von ihr spricht.
Ich muss weg von hier. Jetzt bleibt mir gar nichts anderes mehr übrig.
Sie wartet hinter dem Vorhang, bis Mrs Blakemore auf dem Sofa eingeschlafen ist, bis ihr Schnarchen durch das Haus dröhnt und ihre Schritte übertönt.
Ich hole meinen Koffer. Der ist sowieso schon gepackt. Ich brauche ja nicht viel.
Auf Zehenspitzen schleicht sie durch das Zimmer. Mrs Blakemore liegt auf dem Rücken, der Mund steht offen, ein Arm hängt auf der Seite des Sofas herunter, und die Fingerknöchel berühren den Teppich. Lily kann die dick hervorstehenden Krampfadern sehen, die sich die Beine hinaufziehen und unter dem Nachthemd verschwinden. Ein Slipper baumelt an den gekrümmten Zehen. Sie sabbert.
Was geht da vor?, fragt sie sich. Wie kann sich jemand nur so
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