Das Haus der verlorenen Kinder
ihre Hände in Unschuld zu waschen und zu sagen, das sei Blakemores Problem. Das war ja der springende Punkt. Das war der Gedanke dahinter. Wenn sie mich schon nicht weglaufen lassen wollten, dann wollte ich sie wenigstens dazu veranlassen, dass sie mich wegholen. Und stattdessen bin ich wieder hier, sitze mehr in der Falle denn je, gehe der Blakemore aus dem Weg und warte, dass ER für die Ferien nach Hause kommt. Sie wollen mich nicht hierhaben, aber sie lassen mich auch nicht gehen. Es ist, als hätte die ganze Welt das so geplant.
Ich sitze in Einzelhaft, denkt sie. Ich bin eine Kriegsgefangene.
Auf dem Weg in die große Küche – wo hin und wieder im Brotkasten ein Laib und in der Speisekammer ein Glas Kürbismarmelade zu finden sind – geht sie gerade durchs Wohnzimmer, als das Telefon zu läuten beginnt. Bei dem Geräusch fährt Lily zusammen und tritt den Rückzug in die Richtung an, aus der sie gekommen ist, für den Fall, dass ihre Gefängniswärterin auftaucht. Als sie an der Tür ankommt, stellt sie fest, dass sie sich hinsichtlich Blakemores Aufenthaltsort getäuscht hat: Dass sie tatsächlich aus dem Arbeitszimmer kommt. Sie verbringt inzwischen so viel Zeit in ihrem Schlafzimmer und schluchzt und flucht abwechselnd hinter der verschlossenen Tür, dass Lily ganz erstaunt ist, sie hier zu sehen. Ihr bleibt nur der Bruchteil einer Sekunde, um zu entscheiden, was zu tun ist: Entdeckt zu werden und einen weiteren Zornesausbruch zu riskieren oder sich zu verstecken.
Sie versteckt sich. Springt hinter einen der bodenlangen Vorhänge und hält die Luft an.
Das Telefon klingelt weiter. Sie hört, dass Mrs Blakemore an ihrem Versteck vorbeikommt, hört sie murmeln: »Schon gut. Schon gut. Immer mit der Ruhe.« Die Hausschlappen schlurfen über das Parkett. Sie klingen ölig, matschig, als wäre die Trägerin durch irgendetwas Nasses gegangen und habe sich nicht die Mühe gemacht, den Matsch abzuwischen.
Sie kommt in der Eingangshalle an. Lily hört das Klingeln, als sie den Hörer von der Gabel abhebt. »Rospetroc House«, verkündet sie langsam, in arrogantem Tonfall.
»Tessa!«, ruft sie aus.
»Wuuunderbaar, Darling!«, lallt sie. »Ich halte hier in dem alten Haus die Stellung! Und, wie geht es in der Schule?«
Sie hört kurz zu. Lily beobachtet, wie sie an einer fettigen Haarsträhne herumspielt, die aus der längst herausgewachsenen Bobfrisur herunterhängt. Mrs Blakemore hat es aufgegeben, ihre Haare zu bürsten. Vertraut stattdessen auf eine immer größer werdende Armee von Haarnadeln, mit welchen sie, wie Lily bemerkt, jeden Tag immer mehr Haarsträhnen feststeckt. So viel zu meinen Nissen, denkt Lily. Da muss es inzwischen vor Maden nur so wimmeln. »Gut, gut«, sagt sie, »und, mit welchem Zug kommst du? Wir holen dich natürlich ab. Ich kann es kaum erwarten, dich zu sehen. Hughie kann erst zu Silvester nach Hause kommen; sie müssen für den Kadettenkorps noch dableiben. Aber wir werden uns auch so amüsieren. Mr Varco hat mir eine Gans versprochen.«
Lily hört das Quäken der fernen Stimme, dann ein Luft-schnappen. Und Mrs Blakemore bricht wieder in Tränen aus. »Das kannst du nicht machen«, sagt sie. »Tessa, das kannst du nicht machen.«
Die Stimme quäkt eine ganze Weile.
»Aber ich … Tessa, wie kannst du mir das nur antun? Du weißt, was er getan hat? Begreifst du denn nicht?«
»…«
»Illoyal sein«, unterbricht sie den Schwall an Erklärungen. »Du bist illoyal.«
Sie zupft an ihren Haarnadeln herum. Lehnt sich gegen die Wand, als hätten ihre Beine auf einmal keine Kraft mehr. »Ich habe alles getan«, jammert sie. »Alles. Ich habe hier gesessen – ich habe auf dich gewartet … ich hätte … Mein Gott. Und du verrätst mich. Du glaubst, er …«
Ein seltsames Geräusch entweicht ihrer Kehle: animalisch, verzweifelt. Tessa schweigt schockiert und sprachlos am anderen Ende der Leitung.
Mrs Blakemore schiebt sich an der Wand entlang und schlägt mit dem Hörer Dellen in den Verputz. »Ja, ja, ja …«, jammert sie. »Was mache ich nur? Was mache ich bloß?«
Lily erhascht einen Blick auf ihr Gesicht. Es ist wachsbleich, abgespannt, die Augen weit aufgerissen. Sie weicht wieder hinter den Vorhang zurück, versteckt sich. Mir bleibt gar nichts anderes übrig, denkt sie. Auch wenn es Winter ist, auch wenn ich nicht weiß, wohin ich soll, ich muss von hier weg. In letzter Zeit war sie ziemlich harmlos, und dadurch habe ich ganz vergessen, wie sie wirklich ist. Aber es
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