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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
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Kartoffelpürees, vermischt mit den dunklen Blättern irgendeines Wintergemüses aussieht. Mensch, sie hätte es wenigstens ein bisschen anbraten können: Ein echtes englisches Frühstück zubereiten können. Ein Apfel und ein Glas Milch stehen neben dem Teller und – ach, welch ein Luxus! – ein Becher, aus dem Dampf in die eisige Luft aufsteigt.
    »Ich hab dir eine Tasse Tee gemacht«, sagt Mrs Blakemore. Setzt so etwas wie ein schauerliches Lächeln auf. Ihr dick aufgetragener leuchtend roter Lippenstift ist in die Falten ihrer Oberlippe verlaufen und hat ihre oberen Schneidezähne verschmiert. Sie sieht aus, als hätte sie kleine Tiere gegessen, roh.
    Lily erinnert sich an ihre Manieren und stammelt ein Dankeschön. Die Gefängniswärterin ignoriert sie, ergreift das Tablett von gestern mit dem leer gekratzten Geschirr und macht sich daran, leise wieder dahin zurückzugehen, von wo sie gekommen ist. Sie wird erst morgen wieder aufkreuzen. Wieder vierundzwanzig einsame Stunden. Ich muss es noch einmal versuchen. Zumindest möchte ich das Geräusch einer anderen menschlichen Stimme noch ein paar Augenblicke hören. Manchmal habe ich nämlich den Eindruck, als hätte ich meine eigene Stimme verloren, als würden sich die Geräusche, die ich höre, wenn ich spreche, nur in meinem Kopf abspielen.
    »Mrs Blakemore«, wagt sie zu sagen. »Bitte. Darf ich hier heraus?«
    Mrs Blakemore bleibt stehen, hat ihr den Rücken zugekehrt und überlegt. »Ich glaube nicht, dass das eine besonders gute Idee wäre«, antwortet sie schließlich.
    »Aber Mrs Blakemore«, sagt Lily, »draußen schneit es. Hier gibt es keine Heizung. Mir ist kalt. Mir ist so kalt.«
    »Unsinn«, entgegnet Mrs Blakemore. »Du hast jede Menge Decken. Das ist das Problem mit euch jungen Leuten. Ihr denkt nie daran, euch warm genug anzuziehen. Wickel dich ein, Mädchen. Oder beweg dich ein bisschen. Dann wird dir schon warm werden.«
    Lily blickt sich in dem Mansardenzimmer um: die kahlen Dielenbretter, die leeren Betten, die dicht nebeneinander unter der Dachschräge stehen. Sie könnte auf der Stelle laufen, denkt sie. Liegestützen machen, so wie man es bei der Armee tut. Aber sie hat nicht einmal Schuhe. Die Wärme wird so schnell aus ihren Füßen entweichen, wie sie sie wieder aufwärmen kann. »Bitte, Mrs Blakemore«, wiederholt sie. »Bitte. Ich habe meine Lektion gelernt. Ich mache keine Schwierigkeiten mehr.«
    Sie dreht sich zu ihr um, hat wieder dieses schaurige Grinsen im Gesicht. »Na, wo habe ich das wohl schon einmal gehört?«
    Die ist durchgeknallt. Völlig meschugge. Es ist ja nicht so, als wüsste ich das nicht längst, aber sie wird mich hier nicht mehr rauslassen. Ich werde für immer hier eingesperrt bleiben, bis ich groß genug bin, mich zu befreien, falls ich je die Kraft dazu aufbringe.
    »Bitte«, sagt sie wieder. »Ich kann nicht … ich kann nicht ewig hierbleiben. Es … ich habe hier nichts zu tun. Mir ist so kalt. Ich bin einsam.«
    Wieder dieses Grinsen. »Na ja, wir sind alle einsam, meine Liebe«, sagt sie. »Ich bin selbst einsam, weiß Gott. Noch. Aber bald wird Hughie nach Hause kommen. Dann haben wir Gesellschaft. Ich würde sogar behaupten wollen, dass er Zeit finden wird, auch dir ein bisschen Gesellschaft zu leisten.«

52
    Bis er ankommt, hat sich schon eine Gruppe von Eltern vor dem Schultor versammelt: Das uralte Ritual, ein bisschen zu früh zu erscheinen, um noch ein wenig zu tratschen, bevor die Kinder herauskommen. Sie stampfen auf dem Pflaster auf, klopfen die Hände zusammen, kuscheln sich tiefer in ihre Anoraks und Mäntel und ziehen sich die Schals bis zum Mund hoch. Im Laufe des Tages hat der Wind gedreht, bläst jetzt direkt aus Sibirien, und die Luft schmerzt beim Einatmen in den Lungen: Er ist froh über seine Autoheizung, noch erfreuter über die Farbe vor seinen Scheiben, als er sie heranfahren und aus dem Auto steigen sieht, wie sie übertrieben fröstelt, während sie die Straße überquert und dabei in ihre Handschuhe schlüpft.
    »Immerhin ist das Wetter schön«, stellt Penny Tremayne fest. Sie trägt einen kurzen Mantel aus kirschrotem Leder und dazu eine gestreifte Pudelmütze. Sehr städtisch, aber das ist ihr gestattet, schließlich ist sie Künstlerin.
    Bridget wirft einen Blick zum Himmel hinauf. Es ist erst fünf vor vier, aber es fühlt sich an, als würde es schon bald Nacht. Dunkle Wolken hängen über ihnen, träge und schwer; das schwindende Licht des Nachmittags hat keine Chance,

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