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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
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verpassen.«
    »Hat es geschneit?«, fragt sie.
    »Ja, du Dummerchen! Das hat es!«
    Yasmin springt aus dem Bett und rennt zum Fenster.
    Über Nacht ist die Welt weiß geworden. So weit das Auge reicht, nichts als blendendes Weiß allüberall. Da liegt Schnee auf den Fenstersimsen, Schnee, der die Zweige der Ulme herunterdrückt. Die Büsche sehen wie Trolle aus, die sich unter Eiderdaunendecken ducken, und die Grenze zwischen Farmland und Moor wird lediglich durch die schwarzen Windungen des Bachs markiert.
    Drüben beim Wald, neben dem Bootshaus, wagt sich ein Hirsch aus der Deckung. Schön, elegant, rotbraun. Selbst aus dieser Entfernung kann sie seine großen braunen Augen sehen. Er bleibt am Ufer des Sees stehen, hebt den Kopf und blickt darüber hinweg. Macht, leicht wie eine Ballerina, zehn Schritte durch den unberührten Schnee. Dann verschwindet er im Dickicht.
    Sie ist ganz außer sich: Spürt, wie es ihr vor Aufregung den Rücken hinauf und hinunter kribbelt. Stößt tatsächlich einen Schrei aus und wendet sich, während sie sich mit den Händen in die Haare fährt, ihrer Mutter zu. Und zum allerersten Mal sieht sie, wie ihre Mutter als Kind ausgesehen haben muss; strahlende Augen, weit geöffnete Lippen, sodass alle ihre Zähne zu sehen sind.
    »Worauf wartest du noch?«, fragt sie.
    Es ist wie Weihnachten, denkt sie. Eher wie Weihnachten als es an Weihnachten war. Meine Mum ist mehr in Weihnachtsstimmung, als sie es am Fest selbst war: Sie ist ganz rot im Gesicht und strahlt.
    Der Schnee ist mit einer Harschschicht überzogen, wie mit Zuckerguss. Sie bricht unter ihrem Gummistiefel, und ihr Fuß sinkt überraschend tief ein, bis der Schnee bis ganz oben an den Rand ihrer Stiefel reicht.
    »Das ist erstaunlich«, sagt ihre Mum. »Ich weiß, dass man das im Fernsehen sieht, aber man glaubt nicht, dass so etwas wirklich über Nacht passieren kann. Was meinst du, mein Schatz?«
    Yasmin geht in die Hocke, nimmt eine Handvoll Schnee und wirft ihn ihr ins Gesicht. Bridget schreit auf. Vor Erstaunen und Freude. »Du kleine – du Wilde!«
    Sie streift über den Rhododendron, der neben der Tür zur Spülküche steht, und schleudert einen Armvoll glitzernder Schneekristalle durch die Luft. Sie treffen Yasmin an der Seite ihres Gesichts: schockierend und aufregend kalt. Eisig und nass. Und jetzt rennen sie los, waten durch den Schnee, und ihre Rufe erfüllen den sonnigen Morgen, während sie die unberührte Schneedecke auf dem Rasen zertrampeln. Yasmin strahlt über das ganze Gesicht. Ihre Wangen brennen, und ihre Finger sind taub. Wunderbar, es ist einfach wunderbar.
    Bridget kommt schnell außer Puste. Sie lässt sich rücklings in den Schnee fallen. Ruft: »Schau, Baby!«, und bewegt die Arme auf und ab, spreizt die Beine und schließt sie wieder. »Ein Engel!«
    Sieht für mich nicht wie ein Engel aus, denkt Yasmin. Nur wie ein Durcheinander. Aber ihre Mum sieht so glücklich aus, so mit sich zufrieden, dass sie mitmacht, in die Hände klatscht und ihr gratuliert. Manchmal muss man dafür sorgen, dass die Erwachsenen glücklich sind. Man muss sie ermuntern. Ihnen das Gefühl vermitteln, dass sie es richtig machen.
    Bridget setzt sich auf. »Komm schon. Probier es auch.«
    »Okay«, sagt Yasmin, weil es so aussieht, als würde das trotz der Tatsache, dass das Endprodukt Blödsinn ist, richtig Spaß machen.
    Sie legt sich hin. Spürt, dass die Kälte sie wie etwas Lebendiges umfängt, sie dunkel und gierig einhüllt. Das gefällt ihr nicht. Es fühlt sich an, als hätte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben.
    Plötzlich setzt sie sich fröstelnd auf und schaut zum wolkenlosen Himmel hinauf. Lily, denkt sie. Ich weiß, wie es sich angefühlt hat. Ihre Zähne klappern, und ihr ganzer Körper scheint nur noch zittern zu können.
    »Was ist denn los, Baby? Ist dir kalt?«
    Ihre Mutter beugt sich mit vor Sorge weit aufgerissenen Augen zu ihr hinab.
    Yasmin nickt, schluckt.
    »Ach, ist schon gut«, sagt Bridget. Sie schlingt die Arme um sie und reibt ihr fest über den Rücken. »Ist schon gut. Wir hätten dich wärmer anziehen sollen. Wie dumm. Wie dumm von mir. Komm schon. Komm, wir gehen wieder rein. Ich mache dir eine heiße Schokolade. Wie wäre das? Eine heiße Schokolade?«
    Wieder nickt sie, und das Zittern lässt allmählich nach. Jetzt, in den Armen ihrer Mutter, fühlt sie sich wieder sicher. Die Sonne kommt wieder hervor. Am Arm ihrer Mutter vorbei sieht sie Lily beim Bootshaus stehen, die Hände neben

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