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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
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hat, einem würden jeden Augenblick die Glieder brechen. Und seit die Blakemore sie aus dem Wandschrank im Zimmer mit dem Himmelbett herausgelassen – sie hat keine Ahnung, wie lange sie da drin war, weil sie nach einer Weile jedes Zeitgefühl verlor – und hier eingesperrt hat, mit dem Nachttopf in der Ecke und einem wöchentlichen Freigang, um ein Bad zu nehmen, hat Lily als grundlegende Überlebensstrategie viel Zeit im Bett verbracht. Zumindest ist die Blakemore noch nicht auf die Idee gekommen, die Bettdecken der anderen wegzunehmen, und sie kann diese über und unter sich aufeinanderstapeln. Sonst wäre ich schon längst erfroren, denkt sie. Nicht etwa, dass der das etwas ausmachen würde. Die würde es nicht einmal bemerken.
    Ich würde das ganze Haus in Brand stecken, denkt sie, während sie sich unter die vielen Decken kuschelt und lauscht, wie die Blakemore näher kommt, wenn ich nur an ein paar Zündhölzer gelangen könnte. Dann wäre es wenigstens für ein Weilchen warm. Und wenn das Haus abgebrannt wäre, könnten sie mich nicht länger zwingen, hierzubleiben, oder?
    Sie bewegt sich unter den Decken. Diese haben im Gegensatz zur Luft im Raum noch ein bisschen Wärme von vorhin gespeichert. Gestern hat sie tatsächlich das Eis im Wasserkrug durchstoßen müssen, bevor sie etwas trinken konnte. Sie hat einen elektrischen Strahler mit einer Heizspirale im anderen Speicherraum entdeckt, aber sie wagt es nicht, ihn herüberzuholen, weil sie fürchtet, dass er gefunden wird und damit das Geheimnis der unverschlossenen Tür gelüftet werden könnte. Stattdessen schleicht sie hinüber, wann immer die Luft rein zu sein scheint – sie ist die meiste Zeit rein –, und kauert sich auf die Chaiselongue davor, in eine alte Eiderdaunendecke eingemummelt, aus der verfilzte Klumpen Gänsefedern auf den staubigen Boden rieseln.
    Es ist für sie lebenswichtig, dass diese Tür offen bleibt. Andernfalls würde sie ebenso schnell an Langeweile sterben wie an Kälte, wenn sie nur an die Dachschrägen starren und darauf warten könnte, dass sich etwas tut. Nach drei Wochen – sie hat die Tage gezählt, indem sie Striche in den Verputz der Wand hinter ihrem Bett geritzt hat – hat sie schon lange nichts Neues mehr, was sie sich anschauen könnte, und ist deshalb gezwungen, immer wieder die zerfledderten Alben durchzublättern, in denen längst verstorbene Vorfahren steif und verängstigt vor längst verstorbenen Fotografen posieren. Sie weiß, dass Weihnachten war und vorüber ist, aber sie ist sich nicht sicher, wann das genau war. Sie weiß auch nicht, ob das neue Jahr schon angefangen hat.
    Sie schläft viel. Träumt von Portsmouth und ihrer verschwundenen Mutter. Denkt sich Geschichten aus, um die Angst zu vertreiben, was noch alles auf sie zukommen könnte.
    Jetzt ist die Blakemore auf der Treppe. Sie bewegt sich inzwischen langsam wie ein verwundetes Tier: behindert durch abgelaufene Slipper und hundert Jahre alten Whisky. Ich sollte hoffen, dass sie nicht eines Tages noch stolpert und stürzt, denkt Lily, und sich gar das Genick bricht. Ich würde ja nie hier herauskommen. Weiß Gott, wann die mich verhungert finden würden, so wie bei den alten Leuten, von denen man hin und wieder hört. Lily rollt sich zusammen, zieht die Ärmel ihrer Strickjacke herunter, um sicherzustellen, dass sie das Seidenkleid darunter bedeckt. Seide ist erstaunlich warm. Wärmer jedenfalls als der knielange Rock und die Schulbluse, die sie anhatte, als sie hier eingesperrt wurde.
    Mit einem schrammenden Geräusch geht die Tür auf.
    Heute Morgen hat Mrs Blakemore Make-up aufgelegt. Das nützt auch nichts: Macht im Gegenteil alles nur noch schlimmer, weil das Puder und der Lippenstift auf ihrer Haut, die seit Wochen nicht gewaschen wurde, verlaufen. Trotz ihrer eigenen zweifelhaften Hygiene kann Lily sie durch den Raum riechen: abgestandener Schweiß, fettige Haare, irgendetwas leicht Käsiges. Erwachsene nehmen schneller Gerüche an als Kinder, das hat sie schon früher festgestellt. Es ist, als könnte junge Haut den Schmutz abweisen, als sei sie imprägniert.
    Lily setzt sich im Bett auf, achtet darauf, dass ihre untere Hälfte bedeckt bleibt. Mrs Blakemore schlurft über die Bodendielen, stellt das Tablett auf die einzige Kommode neben dem Kaminvorsprung. Lily reckt den Hals und sieht, dass ihre heutige Ration aus einem Stück Brot besteht, dünn bestrichen mit Margarine, und etwas, was wie ein Teller übrig gebliebenen

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