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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
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wir, egal, wie verdorben sie auch sind, weil die Leute einfach erwarten, dass sie gut sind.
    Er ist wie ein weihnachtlich verpackter Scheißhaufen, denkt sie. Diese arme Frau, unter ihren Kleidern grün und blau geschlagen, und alle erzählen ihr, wie glücklich sie sich doch schätzen kann. Sie hält den Handballen sicherheitshalber auf dem Lichtschalter.
    Kierans Pupillen ziehen sich zusammen. Durch die Anstrengung glänzt seine Stirn ein wenig; Türen einzutreten ist schwieriger, als es im Fernsehen immer aussieht. »Verpiss dich, Carol«, sagt er.
    »Du weißt, dass du das nicht machen kannst, Kieran«, antwortet sie. »Aber du solltest, wenn du vernünftig bist, lieber verduften. Du weißt, dass du eigentlich gar nicht hier sein darfst.«
    »Ich will nur mein Kind sehen«, sagt er.
    Nein, willst du nicht, denkt sie. Du willst die Mutter deines Kindes grün und blau schlagen.
    »Nicht jetzt«, sagt sie, »und nicht ohne die Sozialarbeiterin. Du kennst die Regeln. Es ist mitten in der Nacht.«
    Kieran wirft ihr einen Blick zu. Ihr läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Mein Gott, was ist der böse, denkt sie. Das hätte ich beinahe vergessen.
    »Du solltest jetzt lieber gehen«, wiederholt sie. »Die sind jede Minute da.«
    Bitte, betet sie, gib, dass er mir glaubt. Er weiß nicht, dass ich kein Guthaben mehr auf dem Handy habe. Dass ich nicht anrufen kann, selbst wenn ich es wollte. Wenn ich selbstsicher genug klinge, dann glaubt er mir.
    Und das tut er. Tritt den Rückzug an. Verschwindet aus ihrem Blickfeld, als er die Treppen hinuntersteigt.
    Sie überlegt, fasst einen Entschluss. Sie schaut lieber nach, ob er auch wirklich geht, als dass sie die Hand auf dem Schalter lässt. Im Schein der Straßenlaterne erkenne ich ihn eher als unten an der Treppe, denkt sie: Dann weiß ich, dass er wirklich verschwunden ist und sich nicht irgendwo im Haus versteckt, bis ich bei Bridgets Tür bin und sie mir aufmacht. Sie überquert den Treppenabsatz und beugt sich über das Geländer.
    Er geht langsam hinunter, schaut nach oben. Wieder treffen sich ihre Blicke. Carol zwingt sich bewusst, einen neutralen Gesichtsausdruck aufzusetzen. Lass ihn bloß nicht erkennen, was du von ihm hältst, denkt sie. Damit er keinen Vorwand hat.
    Er senkt den Kopf, setzt seinen Weg fort.
    Das Licht erlischt. Sie hört, dass er stehenbleibt. Was soll ich tun? Soll ich zurückgehen und das Licht einschalten und damit seine Geräusche mit meinen überdecken, sodass ich nicht weiß, wo er ist? Oder bleibe ich hier stehen, vertraue meinem Gehör und glaube, dass er weiter hinuntergeht, wenn er nicht plötzlich losrennt?
    Unter der Wohnungstür einen Stock tiefer dringt Licht hervor. Sie kann die Schatten zweier Füße erkennen, die gegen die Tür gepresst sind. Gott, wie ich die hasse, denkt sie. Ich wette, dass sie die Polizei nicht gerufen haben, obwohl sie es gekonnt hätten. Die warten einfach ab und vergewissern sich, dass kein Schaden an ihrem Eigentum angerichtet wurde, dann gehen sie ins Bett und beschweren sich morgen bei der Arbeit den ganzen Tag über ihre lauten Nachbarn. Eine von uns könnte hier oben umgebracht werden, und die würden nichts anderes tun, als großmäulig von dem Blut zu reden, das die Farbe ihrer Zimmerdecke verfleckt hat.
    Sie hört seine Schritte: bedächtig, vorsichtig. Er wäre nicht so vorsichtig, wenn er auf dem Weg nach oben wäre. Da bin ich mir sicher. Er tastet sich hinunter.
    Ein Gefühl der Erleichterung durchströmt sie, als sich das Geräusch seiner Schritte ändert. Jetzt ist er auf hartem Bodenbelag: auf den alten viktorianischen Fliesen im Erdgeschoss. Die hat sie noch nie sonderlich gemocht, sie sind kalt, zu kunstvoll verziert für die heutige Nutzung des Hauses. Aber jetzt ist sie froh, dass sie da sind.
    Vor der Haustür bleibt Kieran stehen. Sie kann geradezu hören, wie er überlegt.
    »Geh schon!«, ruft sie. »Ich bin noch da.«
    Sie ist erstaunt, wie sicher ihre Stimme klingt. Sein Gesichtsausdruck noch vor einer Minute – betrunken, ja, aber mit dieser Wut eines Neandertalers, die sie im Laufe der Monate, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hat, glatt hatte vergessen können – hat ihr größere Angst eingejagt als zuvor der Krach, als er mit dem Fuß gegen die Tür trat.
    »Hundert Meter!«, ruft sie und zwingt sich, zuversichtlich und selbstsicher zu klingen. Mit beiden Händen umklammert sie das Geländer, um das Gleichgewicht zu halten und dafür zu sorgen, dass ihre Stimme nicht

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