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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
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aggressiv ist, wenn das die Voraussetzung ist, um einen Bonus einzuheimsen?
    Sie stößt sich den Zeh an ihrer Reisetasche an, bemerkt den Schmerz kaum, während sie auf die Tür, den Rachen des Löwen, zukriecht, sich Zentimeter für Zentimeter an der Wand entlangtastet. Habe ich sie abgeschlossen? Habe ich es wirklich nicht vergessen? Hält er sich im Moment mit seinen Fußtritten zurück, weil er weiß, dass ich da bin, und dass die Tür, wenn er schließlich seine ganze Kraft einsetzt und sie eintritt, direkt auf mich fällt?
    Sie ist da. Kann ihn jetzt spüren, das Gesicht alkoholselig verzerrt, wie er sich gegen das Holz lehnt und lauscht, und wie ihm nach der Anstrengung der Schweiß unter seiner Dealer-Tolle herunterrinnt. »Verdammt, verdammt, verdammt«, murmelt er. »Ich weiß, dass du da bist, verdammt noch mal.«
    Sie bringt es nicht über sich, durch den Spion zu spähen, in sein Gesicht zu sehen. Nach hinten an die Wand gedrückt, tastet sie nach dem Schlüssel des Sicherheitsschlosses, der immer im Schloss steckt, damit er auch ja nicht abhanden kommt. Dreht ihn nach rechts. Er lässt das Schloss mit einem leisen Klicken einrasten. Doch es ist nicht so leise, dass er es nicht hören würde.
    »Ich höre dich, verflucht, du verdammte Schlampe!«, brüllt er. »Lass mich rein! Los! Lass mich in meine Wohnung, verdammt!«
    Das ist nicht deine Wohnung. War es noch nie. Sie gehört mir, deinetwegen aber nicht mehr lange.
    Und jetzt tritt er mit aller Kraft zu, wirft sich mit dem ganzen Körper gegen das Holz, hämmert mit den Fäusten und Stiefeln dagegen. Bridget weicht instinktiv zurück, muss sich zwingen, wieder näher heranzugehen, um die Riegel zu fassen und vorzuschieben. Sie hat mit dem untersten zu kämpfen, weil die Tür in ihrem Rahmen bebt, da der getrennt lebende Ehemann mit seinem Gewicht von neunundachtzig Kilo sich dagegen wirft, um zu ihnen hereinzukommen. Ach, Yasmin, ach, mein Baby, er kriegt dich nicht, ich verspreche es. Ich werde alles tun. Alles.
    Der Riegel schnappt ein, und das Geräusch löst ein erneutes Gehämmere auf der anderen Seite aus. »Ich kriege dich, Bridget! Du kannst mich nicht ausschließen! Verdammt, du kannst mich nicht aus meiner eigenen Wohnung ausschließen!«
    Kommt, so kommt doch endlich! Wo seid ihr bloß? Irgendjemand! Carol! Irgendjemand!
    Sie kann sich nicht erinnern, wo sie ihre Tasche hingestellt hat. Jetzt, da die Tür gesichert ist, hat sie sich etwas Zeit verschafft, bis die Polizei eintrifft, aber sie muss sie zuerst einmal rufen. Sie kriecht auf dem Boden entlang, tastet mit ausgestreckten Händen blind nach der Ledertasche, die sie sich in besseren Zeiten gekauft hat. Findet nur herumliegendes Spielzeug, Kartons, die als Kommoden dienen, Schuhe, Bücher, hört seine Wut durch das Haus dröhnen.
    Und dann hört sie Carol, oben an der Treppe. Keine Spur von Angst, die sie doch eigentlich haben müsste, in der Stimme, nur ihr lauter Befehl. »Kieran! Ich habe die Polizei gerufen! Sie kommt jeden Augenblick. Du solltest lieber verschwinden.«

8
    Carols Hände zittern. Das wird ihr klar, als sie nach dem Geländer greift, weil ihre Knie so wackelig sind. Der Zeitschalter, der so kurz eingestellt ist, dass es nur durchtrainierte Leute schaffen, von einer Etage zur nächsten zu kommen, solange es hell ist, schaltet das Licht aus und taucht sie beide in Dunkelheit. Sie schlägt mit der Faust gegen die Wand, an die Stelle, wo sie weiß, dass sich der Lichtschalter befindet. Und jetzt blickt sie in seine Augen hinab, seine Pupillen sind geweitet und dunkel wegen der Veränderung der Helligkeit und der Tatsache, dass er offensichtlich getrunken hat. Natürlich ist er betrunken. So etwas tut er nie, wenn er nüchtern ist. Dafür ist er zu schlau. Er weiß, was »Abstandszone« bedeutet. Weiß, wie weit er gehen kann. Zumindest, solange er nicht zu viel Bier intus hat.
    Dennoch ist sie, wie alle anderen auch, verblüfft, wie gut er aussieht. Man würde es nie für möglich halten, denkt sie, dass hinter einem so schönen Gesicht ein solch brutaler Kerl steckt. Das hält keiner für möglich. Das ist ja das Problem. Wer weiß, ob ich an Stelle von Bridget mich nicht ebenfalls in ihn verknallt hätte. Der da wäre imstande, Hindus Burger aufzuschwatzen. Dieser Knochenbau, diese unschuldigen blauen Augen, der markante, aber freundliche Mund: Jeder geht nach dem Äußeren, was immer auch behauptet wird. Gut aussehende Menschen haben es im Leben immer leichter als

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