Das Haus der verlorenen Kinder
Bridget, und blickt in den Seitenspiegel, weil der Rückspiegel von den Kartons mit den Töpfen und Büchern, Schuhen und Spielsachen, Geschirr und Putzmitteln verstellt ist, die alle eiligst zusammengepackt wurden, dann würde sie ihn zweifellos überleben. Ob sie allerdings in dem Fahrzeugwrack gefunden würde, bevor sie erstickt ist, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Eines hat Bridget bereits herausgefunden: Westlich von Reading gibt es keinen guten Radiosender. Nach Bristol ist die Welt, bis auf ein paar raubkopierte Drum-and-Bass-Stücke, ganz gemütlich geworden, mit Berichten über zwei Meilen lange Staus auf Umgehungsstraßen und über Weihnachtsmärkte. Es ist, als würde London gar nicht existieren, denkt sie, abgesehen von einem seltsam argwöhnischen Bericht über irgendwelche Verordnungen aus Westminster. Es hätte sich genauso gut um einen anderen Planeten handeln können, oder zumindest um ein anderes Land, für diese Leute so wichtig wie Rom oder New York. Ab Exeter, bei der dritten Sendung über die Zubereitung eines dekorativen Chutney, gibt sie sich geschlagen, fingert an den Knöpfen herum, bis sie Radio 2 findet. Da läuft Duran Duran »Girls on Film«. Die letzte Melodie, die bei ihrem ersten Abend in der Schuldisco gespielt wurde, als sie die Lichter nach den Schmusetänzen wieder anschalteten. Damals. In einem anderen Leben. Als sie dachte, die Zukunft halte nichts als Abenteuer bereit.
Bridget lächelt heute zum ersten Mal, abgesehen von dem falschen, aufgesetzten Lächeln, mit dem sie ihre Tochter immer wieder beruhigen will. Singt mit – immerhin mit dem Chor –, während sie die Scheinwerfer einschaltet. Wie es bei Umzügen immer der Fall ist, sind sie später losgekommen, als sie vorhatten, weil die Kartons und Taschen so viel schwerer und schwieriger zu verstauen waren, selbst mit Carols Hilfe, als sie gedacht hatten, und es ist bereits kurz vor sechzehn Uhr. Es wird stockdunkel sein, bis wir dort ankommen, denkt sie. Ich werde die meisten Sachen bis morgen im Auto lassen müssen und nur die Bettdecken und die Kochsachen hinaufbringen. Wir sind dort schließlich auf dem Land. Dort können wir ein Auto voller Wertsachen, so sie welche sind, getrost über Nacht stehen lassen, und ich kann trotzdem davon ausgehen, dass sie morgen noch da sind.
Mein Gott, was bin ich müde, denkt sie. Ich werde wohl alt. Und dann lacht sie laut auf, weil ihr klar wird, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben im Auto Radio 2 eingestellt hat. Vielleicht bist du noch nicht wirklich alt, sagt sie sich, aber du hast ganz eindeutig einen der Meilensteine des mittleren Alters hinter dich gebracht.
»Was ist denn so lustig?«
Sie wirft einen Blick in den Rückspiegel. Yasmin sitzt aufrecht da und reckt den Hals wie eine Meerkatze. Sie ist auf ihrer Sitzerhöhung festgegurtet und streckt die Beine von sich, weil sie zu kurz sind, um sie an den Knien zu beugen, und ihre dunklen Haare sind auf einer Seite vom Schlafen zusammengedrückt. Bridget wird von einer dieser Wogen der Liebe überrollt, die sie stündlich überkommen. Mein Baby.
Kein Baby mehr, aber noch nicht groß genug, um gegen die Lehne des Fahrersitzes zu treten.
»Nichts, Baby«, sagt sie. »Ich habe nur gerade etwas im Radio gehört. Hast du Durst?«
Yasmin überlegt und streckt sich, um auf die trostlose Straße hinauszusehen. »Ja«, sagt sie geistesabwesend, herrisch. »Wann ist es denn dunkel geworden? Es muss schon schrecklich spät sein.«
»Es ist Winter, Darling. Im Winter wird es früh dunkel.«
Kinder sind dermaßen komisch. Was ihnen auffällt und was nicht. Sechs Winter hat Yasmin inzwischen erlebt, und erst jetzt fällt ihr das mit der Dunkelheit auf. »Warum?«
Du meine Güte, denkt Bridget, darauf weiß ich beim besten Willen keine Antwort. Liegt es daran, dass der Verlauf unserer Umlaufbahn zu verschiedenen Zeiten im Jahr unterschiedlich ist? Oder eiert die Erde um ihre Achse? Oder hat es etwas mit den Schwankungen zu tun, über die in den Wissenschaftsprogrammen ständig die Rede ist?
»So ist es nun einmal.« Sie entscheidet sich für die So-istes-nun-einmal-Version. »Deshalb wird es im Winter kälter, verstehst du. Die Sonne scheint kürzer.«
»Warum?«
»Warum was?«
»Warum scheint die Sonne kürzer?«
»Weil Winter ist«, hebt sie an. Dann wird ihr klar, dass sie sich in eine Ecke manövriert, und sie schlägt eine andere Richtung ein. »Wir brauchen den Winter, damit die Pflanzen eine Ruhepause haben. Es ist
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