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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
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zittert. »Du musst unbedingt hundert Meter entfernt sein, wenn sie kommen. Das weißt du.«
    Unten klickt der Riegel, und sein großer Schatten fällt auf die alten Bodenfliesen. »Ist egal«, sagt er, und seine Stimme hallt durchs Treppenhaus, obwohl er leise spricht. »Ich kann wiederkommen. Du kannst schließlich nicht immer da sein.«
    Die Tür fällt ins Schloss. Carol wartet, hält den Atem an, tritt auf die oberste Stufe, lauscht nach Anzeichen, ob er noch immer im Haus sein könnte.
    Nichts. Kein Knistern, kein Rascheln.
    Er könnte wie eine Katze sein, denkt sie. Er könnte in der Lage sein, sich so still zu verhalten, dass sich selbst winzige Beutetiere in trügerischer Sicherheit wiegen und herauskommen könnten, weil sie glauben, die Luft sei rein.
    Wieder überquert sie den Treppenabsatz und knipst das Licht an. Beugt sich über das Geländer, um auch in die dunklen Stellen unter der Treppe zu sehen.
    Die Eingangshalle ist leer.
    Sie überlegt.
    Carol schaltet wieder das Licht an, rennt hinunter, Schalter um Schalter, an Bridgets Wohnungstür vorbei, an den Yuppies vorbei. Holt tief Luft und rennt in die Eingangshalle. Rutscht mit ihren bloßen Füßen über die Fliesen, stürzt auf die Haustür zu. Schiebt den Riegel mit Schwung in den Haken und kippt, weil die Kraft sie verlässt, gegen die dick lackierte Holztür und atmet wieder durch.

9
    Sie ist immer nervös, wenn sie nach Hause kommt, selbst wenn sie nur ein paar Minuten fort war. Schließlich würde es ja nur ein paar Minuten in Anspruch nehmen: Er könnte hereinkommen und wieder verschwinden, und keiner würde es merken, wenn sie nicht da ist. So kann man sein Leben unmöglich verbringen, sein einziges Leben, denkt sie. Ich werde eine dieser alten Damen sein, deren Leiche längst mumifiziert ist, bis einer überhaupt bemerkt, dass ich nicht mehr da bin.
    Dafür werde ich allmählich zu alt, denkt Carol, während sie die Eingangsstufen hinaufsteigt. Ist ja alles schön und gut, aber ich bin beinahe fünfundvierzig, eine Frau mittleren Alters, und Damen mittleren Alters sollten nicht einmal in Krisenzeiten die ganze Nacht auf den Beinen sein. Sie fühlt sich ausgelaugt, mitgenommen. Yasmin hängte sich am Schultor wie eine Klette an sie, wie sie es immer tut, wenn Kieran ihnen einen Besuch abgestattet hat. Ich brauche ein Nickerchen. Ein Nickerchen, ein Bad und mehrere Tassen Kaffee.
    Im Haus ist es still, die Haustür zweifach abgeschlossen. Sie bleibt in der Eingangshalle stehen und lauscht. Nichts. Nur das Brummen des Verkehrs auf der High Road. Sie steigt die Treppe hinauf. Klopft an Bridgets Wohnungstür und stellt fest, dass der Riegel einfach nachgibt.
    »Hallo?«, ruft sie. Späht beklommen hinein. Alles sieht normal aus. Keine Kampfspuren, keine Blutflecken.
    »Bridget? Hallo?«
    »Hier bin ich.«
    Sie folgt der Stimme in die Küche. Bridget sitzt auf dem Boden, hat neben sich einen Becher Kaffee stehen, und ein Brief liegt auf ihrem Schoß. Tränen laufen ihr übers Gesicht.
    »Ach, Darling«, sagt Carol. Sie kniet sich nieder und schlingt die Arme um ihren Kopf.
    »Keine gute Nachricht, wirklich«, antwortet Bridget.
    »Worum geht es denn?«
    »Darum.«
    Sie gibt ihr den Brief. Er trägt den Briefkopf einer großen Kanzlei im Zentrum Londons, aber er stammt von der Wohnungsgesellschaft, wie Bridget bereits gestern Abend vermutet hat. Carol liest ihn, langsam, verarbeitet die steife und formelle Ausdrucksweise und legt ihn zur Seite.
    »Einen Monat? Mehr Zeit lassen sie dir nicht?«
    Bridget seufzt. Zuckt mit den Schultern. »Sie haben mir mehr als ein Jahr Zeit gelassen. Man kann von ihnen nicht erwarten, dass sie es ewig so weiterlaufen lassen. Sie sind schließlich keine Wohltätigkeitseinrichtung.«
    »Ja, aber du hast ein Kind.«
    Bridget lässt ihren Tränen freien Lauf.
    »Es ist sowieso Zeit, dass wir ausziehen«, sagt sie schließlich. »So kann ich jedenfalls nicht weitermachen. Er wird bald wiederkommen. Das weißt du.«
    »Du bist ja fix und fertig«, stellt Carol fest.
    »Und das aus gutem Grund«, antwortet Bridget. »O Gott, was bin ich müde.«
    Carol setzt sich hin, lehnt sich gegen den Küchenschrank. Ergreift Bridgets Hand und drückt sie.
    »Ist sie gut zur Schule gekommen?«
    Carol nickt. »Klar. Ich hole sie auch wieder ab.«
    »Tut mir leid«, sagt Bridget. »Tut mir wirklich leid, Carol. Das ist dir gegenüber so unfair.«
    »Ach, Darling«, antwortet Carol. »Schau. Wir werden schon eine Lösung finden.

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