Das Haus der verlorenen Kinder
Genau genommen hatte ich zu viel anderes zu tun, als dass ich mir hätte Gedanken machen können, ob ich Angst habe. Hier regnet es in Strömen. Es hat in Dartmoor zu schütten angefangen und nicht mehr aufgehört, und es würde mich nicht wundern, wenn der Wind beinahe Sturmstärke erreicht hätte. Er hat mich ein paar Mal praktisch von der Straße gedrückt, als wir durch Bodmin gefahren sind. Ich hatte vor allem Angst, dass wir von einem herunterfallenden Dachziegel getroffen werden.«
»Habt ihr was gegessen?«
»Heinz Tomatensuppe und Käsetoast. Keine von uns beiden hatte großen Hunger. Und sie hat ja fast die ganze Fahrt über Chips gefuttert.«
»Aber jetzt schläft sie?«
Bridget seufzt. »Ja. Allerdings musste ich ihre Zimmertür offen und die Lichter angeschaltet lassen. Ich glaube kaum, dass ich lange für mich sein werde.«
»Hol dir einen Drink und steig in die Badewanne«, rät Carol.
Eine tolle Idee, denkt Bridget. Ein ausgedehntes Bad ist genau das, was ich jetzt brauche. Und ich würde eines nehmen, wenn wir heißes Wasser hätten. Und wenn die Badewanne nicht von Spinnweben überzogen wäre. »Ja, du hast recht. Das ist genau das, was ich jetzt brauche.«
»Übrigens, ich habe ein Geschenk für dich in den linken Gummistiefel der jungen Dame gesteckt. Eine halbe Flasche Wodka. Dachte mir, du könntest ihn gebrauchen.«
»Ach, Carol. Das war doch nicht nötig.«
»Es ist nur Asda«, antwortet Carol. »Nichts Besonderes. Ich dachte nur … na ja, ich wusste ja, dass du selbst an so etwas nicht denkst, und ich weiß, wie es ist, wenn man versucht, in einem fremden Bett einzuschlafen. Selbst wenn man nicht mehr sechs Jahre alt ist.«
»Du bist eine tolle Freundin, weißt du das?«
»Klar. Und jetzt bekomme ich als Belohnung für den Rest meines Lebens eine kostenlose Unterkunft für die Sommerferien.«
»Du weißt, dass du jederzeit kommen kannst.«
Plötzlich fühlt sich Bridget einsam. Die Sommerferien beginnen erst in sechs Monaten. »Du weißt, dass du willkommen bist«, fährt sie mit leiser Stimme fort. »Kannst du nicht früher kommen?«
»Nein«, antwortet Carol, und Bridget spürt einen Stich in der Magengrube. »Du wirst jetzt doch nicht rührselig werden«, fährt sie fort. »Ich komme, sobald wir das beide hinkriegen. Das weißt du doch.«
»Ja.« Bridget unterdrückt ein Schniefen und wischt sich mit dem Handrücken über die Augen.
»Es wird schon gut sein. Morgen früh. Sobald du alles ausgepackt hast und dich allmählich zurechtfindest. Du machst das Richtige, das weißt du.«
»War er da?«, fragt sie, weil sie es sich einfach nicht verkneifen kann, an Kieran zu denken.
»Du bist erst einen halben Tag fort. Er hatte wohl kaum Zeit. Und im Pub ist noch nicht Sperrstunde, oder?«
»Er wird dermaßen …«
»Na, schön«, fällt ihr Carol ins Wort. »Er hat es mehr als verdient. Und außerdem kann ich daran nichts ändern. Also hör auf damit. Es ist müßig, daran zu denken. Geh und lass dir das Bad einlaufen.«
»Ja, natürlich.« Es hat keinen Zweck, ihr zu erzählen, wie düster die Lage im Augenblick aussieht. In ein paar Tagen wird es bestimmt besser sein.
»Schenk dir einen ordentlichen Schluck ein und nimm ihn mit ins Schlafzimmer. Ich garantiere dir, dass du im Nu einschläfst, egal, wie kalt es ist.«
»Okay«, antwortet sie.
»Ich ruf dich morgen an. Zumindest wissen wir, dass dein Telefon dort unten funktioniert, was?«
»Wir sind hier nicht in Sibirien«, sagt Bridget. »Nur in Cornwall.«
Ein Windstoß trifft die Seite des Gebäudes, rüttelt an den Fensterflügeln. Es kommt gar nicht in Frage, dass sie noch einmal über den Hof läuft, um Yasmins Gummistiefel zu holen, die irgendwo im Kofferraum vergraben sind.
»Schlaf gut«, sagt Carol.
»Danke, du ebenfalls.«
»Diese verdammte Alarmanlage vom Auto ist schon wieder losgegangen«, stellt sie fest. »Ich kann’s nicht fassen. Sei bloß froh, dass du bist, wo du bist. Ehrlich, Bridge. Es dauert bestimmt nicht lange, dann beneide ich dich.«
In der Pampa. Bei einem Wind, der sich anhört, als versuche jemand verzweifelt, durchs Dach hereinzukommen. Ach Gott, habe ich einen schrecklichen Fehler gemacht?
»Gute Nacht«, sagt Carol.
»Gute Nacht«, antwortet sie. Legt auf und sitzt da, die Ellenbogen auf dem winzigen Küchentisch, das Gesicht in die Hände gestützt, und gestattet sich, ein paar dicke Tränen des Selbstmitleids über ihre Finger laufen zu lassen. Vor Yasmin darf sie nicht
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