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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
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weinen: Hat einen Pakt mit sich geschlossen, wenigstens zu versuchen, es nicht zu tun. Aber das heißt nicht, dass ihr nicht fast den ganzen Tag zum Heulen zumute ist. Wie ist es nur gekommen, dass ich so einsam ende? Ich war mal hübsch und beliebt, und jetzt zähle ich zu jenen Menschen, die keiner bemerkt, wenn man ihnen auf der Straße über den Weg läuft. Nicht einmal Bauarbeiter bemerken mich mehr: Sie verstummen, wenn ich vorbeigehe.
    Kein Wunder, denkt sie. Das Selbstmitleid, das du ausstrahlst, reicht aus, um jeden vernünftigen Menschen abzuschrecken. Aber es ist erstaunlich, wie schnell das geht. Vor zehn Jahren bin ich wegen des Aufsehens, das ich erregt habe, ungern an Baustellen vorbeigegangen. Jetzt tue ich das Gleiche aus genau dem entgegengesetzten Grund. Das Leben mit Kieran war wie das Tropfen von Wasser auf Stein: Man bemerkt die Wirkung nicht beim Zusehen, aber ein Jahrzehnt hat ausgereicht, die Schicht meiner Zuversicht bis auf den langweiligen grauen Lehm darunter auszuwaschen. Er war wie ein Vampir: hat mein Selbstwertgefühl aufgesogen, um sein eigenes aufzuplustern.
    In der kombüsenartigen Küche kommt sie sich wie ein Seemann vor, der sich auf dem Meer verirrt hat. Hier drin ist es recht warm, weil sie den Backofen voll aufgedreht und die Tür aufgemacht hat, aber sie weiß, dass es ganz anders sein wird, sobald sie in den Flur tritt. Der Wind, der noch einen Gang zulegt, heult wie ein wildes Tier um das Gemäuer. Sie ist immer ein Stadtmensch gewesen: Hat mit ihrer Mum und ihrem Dad in Peckham gewohnt, bis sie erwachsen war, und wäre wahrscheinlich mit Yasmin dorthin zurückgekehrt, wenn sie die Möglichkeit hätte. Sie ist nie irgendwo allein gewesen, wo nicht zumindest der orangefarbene Schein der Straßenlaternen und hin und wieder das Geräusch von Schritten die Illusion heraufbeschworen hätten, dass jemand in der Nähe war. Hier draußen, meilenweit vom nächsten Ort entfernt … könnte alles Mögliche passieren, und keiner würde es mitbekommen.
    Sie schiebt den Stuhl abrupt zurück. Das ist die Müdigkeit, wie Carol gesagt hat. Hier muss es besser sein als in Streatham. Es gibt nichts Schlimmeres, als von Menschen umgeben zu sein und zu wissen, dass keiner dir hilft. Diesen Weg wirst du jedenfalls nicht gehen. Du bist noch immer gesund, deine Tochter ist schön und fröhlich und liebevoll, und das Leben wird hier bestimmt besser. Muss besser werden. Morgen werden wir richtig dicke Daunendecken und ein paar Heizlüfter und Wärmflaschen kaufen, und ich werde den Wasserkocher, die Kleider und den Fernseher aus dem Auto holen, dann können wir es uns hier endlich gemütlich einrichten. Aber jetzt muss ich erst einmal schlafen.
    Irgendetwas klappert draußen im Hof, lässt sie zusammenzucken. Sei nicht albern, denkt sie. Der Wind weht. Wahrscheinlich ist es ein Ast oder dergleichen, der sich gelöst hat und jetzt den Hügel hinunterrollt. Und inzwischen trommelt der Regen gegen das Fenster, als würde ein jugendlicher Verehrer Steinchen dagegenwerfen. Das hat nichts zu bedeuten. Er ist dir nicht gefolgt. Er wird im Büro gewesen sein, als du losgefahren bist. Das ist einfach die Natur, und du bist mittendrin.
    Sie überlegt einen Augenblick, ob sie den Backofen nicht über Nacht anlassen soll, schaltet ihn dann aber widerwillig aus. Es hat keinen Zweck, zu testen, wie viel die Sicherungen aushalten; offensichtlich braucht es nicht viel, bis sie herausspringen.
    Ins Schlafzimmer zu kommen ist, als betrete man eine Kühlkammer: Nachdem das Haus Anfang des Winters einen Monat leer stand, zittert es, weil es so vernachlässigt wurde. Beim Zuziehen der Vorhänge spürt sie, wie kalte Luft durch das Fenster hereinzieht, durch den uralten Fensterrahmen eindringt. Sie erinnert sich an ihren Vater, der im Winter, als sie noch ein Kind war und sie sich noch keine Kunststofffenster leisten konnten, mit einer Rolle Tesamoll durch das Haus gegangen ist und überall die Fenster abgedichtet hat. Ich werde morgen eine Rolle kaufen, denkt sie, wenn wir im Supermarkt sind. Die Liste wird ja immer länger.
    Sie kickt sich die Schuhe von den Füßen und schlüpft voll bekleidet unter die Bettdecke, dicke Brokatvorhänge wie eine altmodische Tagesdecke obendrauf ausgebreitet. Wartet, dass das Bettzeug warm wird, dann kämpft sie sich unter den Decken aus ihren Jeans.
    Normalerweise kann sie nicht schlafen, ohne sich zumindest die Zähne geputzt zu haben, aber der Gedanke an das eisige Wasser aus diesen

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