Das Haus der verlorenen Kinder
Cornwall nur so von Londonern – na ja, so war es zumindest vor dem Krieg. Die sind herumgetrampelt und haben Fisch und Chips gegessen und überall die Tore offen gelassen. Und beide Kinder haben in der Schule bereits Erfahrungen mit ihnen gemacht: Entsetzliche Angeber, die sich übermäßig Sorgen um Schmutz und Mode machen, zumindest, bis man sie mit ein paar ordentlichen Prügeleien zurechtgestutzt hat.
»Meinst du, wir sollten hinuntergehen?«
»Auf keinen Fall«, erklärt Hugh. Als der Ältere und als Junge hat seine Meinung im Haushalt der Blakemores Gewicht. Umso mehr, seit Patrick Blakemore sich freiwillig zur Armee gemeldet hat und in den Krieg gezogen ist. »Wir wollen doch keinen Präzedenzfall schaffen. Das sind keine Gäste. Das sind Evakuierte.«
»Ach«, sagt Tessa. Sie ist ein wenig enttäuscht. Selbst in guten Zeiten ist Rospetroc abgeschieden – und jetzt, da das Benzin rationiert ist, umso mehr – zumal ihre Mutter ganz klare Vorstellungen hat (zumeist basierend auf der Größe des Hauses und wie lange es schon im Besitz der Familie ist), mit welchen der Einheimischen man verkehrt, und die Sommerferien kommen ihr so schrecklich lang vor. Irgendwie hatte sie sich darauf gefreut, dass sich das Haus mit Kindern füllen würde, selbst mit fremden aus London.
»Kuckuckskinder im Nest«, stellt Hugh voller böser Ahnungen fest.
»Schau«, sagt sie. »Die Hälfte von ihnen hat ihre Sachen in braunen Kartons verpackt. Haben die noch nie etwas von Koffern gehört?«
»Vielleicht sind ihre Koffer in die Luft geflogen. Wir haben schließlich Krieg, wie du weißt.«
Sie beobachten, wie ihre Mutter aus der Haustür tritt und den Weg hinaufgeht. Sie hat ihren besten Tweedrock und ein Alpaka-Twinset angezogen, das früher einmal gelb war, inzwischen aber zu einer Art gedämpftem Café au lait ausgebleicht ist.
»Schau dir die alte Peachment an«, sagt Hugh. »Glaubst du, dass das ihr bester Hut ist?«
»Unmöglich, oder?«
»Ich weiß nicht. Immerhin kommt es nicht häufig vor, dass sie nach Rospetroc eingeladen wird.«
Tessa blickt zu ihrem Bruder hinüber. Sie hat ein Alter erreicht, in dem ihr allmählich dämmert, dass die Überzeugung ihrer Familie, sie sei von Gott auserkoren und deshalb ermächtigt, einfach Urteile über die Nachbarn zu fällen, möglicherweise nicht die ganze Geschichte erzählt.
Trotzdem hält sie Mrs Peachment für eine schreckliche Wichtigtuerin. Sie sagt »Toilette« und »Pardon«. Und es ist wirklich ein grässlicher Hut.
Schweigend mustert sie ihre neuen Hausgenossen. Fragt sich, ob unter ihnen nicht irgendjemand ist, mit dem sie sich, trotz der Befürchtungen der Familie, anfreunden könnte. Jemand, mit dem man das Boot herausholen, einen Damm bauen und in den Hecken, die die Grenze zwischen der Farm und dem Moor bilden, auf die Jagd nach Vogeleiern gehen könnte. Vielleicht werden wir am Ende Freunde fürs Leben, selbst wenn sie aus London kommen. Man kann mit Menschen Dinge gemein haben, auch wenn es oberflächlich nicht danach aussieht. Und im Internat, da gehe ich schließlich manchmal zu Susannah Bain und übernachte bei ihr, wenn ihre Mutter kommt und uns abholt, dabei hat ihr Vater in Manchester eine Ziegelei …
Sie sehen mit ihren roten Gesichtern nicht gerade vielversprechend aus, in ihren Wintermänteln, obwohl Sommer ist, und ihre Gesichter sind verschmiert von den Tränen und dem Schmutz in den engen Zugwaggons. Eine heult jetzt immer noch. Ein stämmiges kleines Mädchen mit zwei dünnen Zöpfen und Kniestrümpfen, die heruntergerutscht sind, reibt sich mit dem Ärmel über die Augen.
»Wie erbärmlich«, stellt sie fest. Sie hat nicht geweint, als sie ins Internat gekommen ist, nicht ein einziges Mal. Na ja, jedenfalls nicht, solange alle sie sehen konnten.
Dann fügt sie hinzu: »Moment mal, sollten das nicht eigentlich vier sein?«
»Menschenskind«, antwortet Hugh, »du hast recht. Und schau dir Mutter an! Mach das Fenster auf! Schnell!«
»Nein!«, sagt Felicity Blakemore. »Kommt gar nicht infrage. Nein!«
Margaret Peachment hat mit dieser Antwort gerechnet. Auch sie ist mit ihrem Latein am Ende.
»Tut mir leid, Mrs Blakemore«, sagt sie, »aber ich weiß wirklich nicht, wo ich sie sonst unterbringen könnte.«
»Bestimmt hat jemand im Dorf …«
Mrs Peachment schüttelt den Kopf. »Glauben Sie mir, ich habe es schon überall versucht. Im ganzen Dorf wimmelt es von Evakuierten. Wenn es irgendwo noch einen Platz geben täte, dann hätte
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