Das Haus der verlorenen Kinder
wie bei dir, wenn du schlafen musst.«
»Aber Pflanzen müssen nicht schlafen«, stellt Yasmin fest. »Es sind die Menschen, die schlafen müssen.«
»Hmm«, antwortet Bridget unverbindlich.
»Und Katzen. Katzen schlafen. Ganz viel. Manchmal kriegt man sie gar nicht wach.«
»Stimmt.«
»Können wir ein Kätzchen haben?«
»Mal sehen«, antwortet sie. Ein Satz, den sie sich dreißig, vierzig Mal am Tag aussprechen hört.
»Ich werde es Fluffy nennen«, stellt Yasmin entschieden fest.
Bitte nicht, denkt Bridget. Es ist schon hart genug, das Kätzchen eines Kindes zu sein, ohne Fluffy zu heißen.
»Sind wir bald da?«
»Es dauert leider noch ein paar Stunden.« Bridget fischt einen Minikarton Five Alive aus dem Türfach, reißt die Packung mit den Zähnen auf und reicht sie nach hinten.
»Noch ein paar Stunden?«
»Ja. Ich hab dir doch gesagt, dass es eine lange Fahrt ist.«
»Praktisch nach Amerika«, stellt Yasmin in dieser seltsamen, plötzlich ganz erwachsen klingenden Art fest.
Gar nicht so daneben, denkt Bridget. Schließlich braucht man nur sieben Stunden, um nach Florida zu fliegen.
»Mummy, mir ist langweilig.«
O Gott. Lass sie bloß nicht damit anfangen. Wir haben noch eine so lange Strecke vor uns. »Möchtest du ein Spiel machen? Wie wäre es mit ›Ich sehe was, was du nicht siehst?‹«
»Ja. Ich sehe was, was du nicht siehst, und das fängt mit S an.«
»Hmm …« Bridget schaut sich um. »Schiebedach?«
»Nein.«
»Seitenfenster?«
»Nein.«
»Hmm …«
Ein Auto kommt ihnen auf der anderen Straßenseite entgegen. »Scheinwerfer?«
»Genau«, sagt Yasmin. »Ich sehe was, was du nicht siehst, und das fängt mit S an.«
»Scheinwerfer«, antwortet Bridget. »Genau. Ich sehe was, was du nicht siehst, und das fängt mit S an.«
»Ist schon gut, ich hab’s kapiert. Trink doch was.« Ein lautes Schlürfen auf der Rückbank.
»Wie lange dauert’s noch?«
»Eine Stunde und neunundfünfzig Minuten.«
»Mir ist soooooo langweilig!«
»Da, schau!«, ruft Bridget. »Ein Kamel!«
»Wo?« Sie richtet sich wieder auf, die Langeweile ist vergessen.
»Ups, verpasst.«
»Was hat denn ein Kamel hier zu suchen?«
»Kamele gibt es überall.« Vor allem, wenn kleine Kinder abgelenkt werden müssen. Dafür sind sie sehr nützlich. Elefanten ebenfalls.
»He, wie kommt es, dass ich nie eins sehe?«
»Du bist einfach nicht schnell genug, das ist alles. Ich bin mir sicher, wir sehen noch eines. Ich denke, hier an dieser Straße könnte es einige geben. Schließlich kommen wir bald durch einen Ort, der Camelford heißt.«
»Tsss«, sagt Yasmin. »Manchmal glaube ich, du denkst sie dir nur aus, Mum.«
Ach, verdammt. Ich wusste, dass es zu gut ist, um lange anzudauern.
»Wir müssen uns überlegen«, sagt sie, »in welcher Farbe wir dein Zimmer streichen wollen. Es ist cool, nicht wahr, dass du endlich ein eigenes Zimmer hast, oder?«
»Glaub schon«, antwortet Yasmin. Bridget ist ein wenig enttäuscht. Sie hatte mit mehr Begeisterung gerechnet, aber sie vermutet, dass es für ein Kind in Yasmins Alter schwierig ist, sich für etwas zu begeistern, was es noch nie hatte. Mit Ausnahme eines Kätzchens.
Vielleicht sollte sie die Sache mit dem Kätzchen doch in Erwägung ziehen. Aber das ist eine knifflige Entscheidung. Es wird noch schwerer sein, wieder wegzuziehen, falls die Sache nicht funktionieren sollte, wenn man ein Haustier zurücklassen muss.
»Du hast sogar ein zusätzliches Bett«, erzählt sie fröhlich. »Dann können deine Freundinnen bei dir übernachten.«
Yasmin nimmt ihren Affen von dem Sitz neben ihr und beginnt, an seinen Ohren herumzureißen. »Alle meine Freundinnen sind in London.«
»Du wirst neue Freundinnen finden«, verspricht sie ihr.
»Wie?«
»Na ja, du wirst in eine neue Schule gehen …«
»Ich will in keine neue Schule gehen …«
Sie hört, wie die Stimme ihrer Tochter immer lauter wird. O nein, bitte nicht, denkt sie. Ich kann heute keine weiteren Tränen verkraften. Ich habe gerade meine Wohnungsschlüssel der Wohnungsgesellschaft übergeben. Ich bin gerade obdachlos geworden. Ich habe alles, was mir vertraut ist, hinter mir gelassen und flüchte an einen Ort, wo mir alle fremd sind …
Und dann redet sie weiter, wie es Mütter immer tun: Zwingt ihre Stimme, unbeschwert zu klingen, und ihr fällt wie immer etwas Positives ein. Meine Tochter wird nicht unglücklich aufwachsen. Sie wird nicht mit dem Gedanken aufwachsen, dass die Welt bedrohlich und
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