Das Haus der verlorenen Kinder
ich sie dort untergebracht.«
Gäbe, denkt Felicity Blakemore. Gäbe. Wenn Sie mich schon auf diese Weise unter Druck setzen, dann sollten Sie sich zumindest grammatikalisch korrekt ausdrücken. Dieser Krieg ist grässlich: Plötzlich nimmt sich die Bourgeoisie von Women’s Institute und Mother’s Union uns gegenüber Frechheiten heraus, die laufen mit ihren gut gebügelten Blusen-schleifen und ihren Robin-Hood-Hüten fröhlich durchs Haus und kommandieren die Leute im Namen des Patriotismus herum.
»Ich werde mein Bestes tun«, sagt Mrs Peachment, »um so schnell wie möglich eine andere Unterkunft für sie zu finden.«
Was natürlich nie der Fall sein wird. Sobald ich sie aufnehme, wird es dabei bleiben. Dann sind vollendete Tatsachen geschaffen.
»Leider ist es aber so, Felicity, dass Sie die Einzige sind, die noch Kapazitäten freihat. Tregarden ist in ein Offizierskasino umgewandelt worden und Croan in ein Lazarett. Sie müssen mir in diesem Fall einfach aus der Patsche helfen.«
Freie Kapazitäten? Wovon redet die? Das ist mein Haus, keine Reifenfabrik. Und außerdem kann ich mich nicht erinnern, dass wir uns mit Vornamen ansprechen.
»Na ja, da wir wohl alle unseren Beitrag leisten müssen«, sagt sie spitz, »verstehe ich nicht, warum Sie sie nicht selbst aufnehmen.«
Margaret Peachment seufzt. Sie hat ja gleich gewusst, dass Felicity Blakemore Schwierigkeiten machen würde. Immerhin haben wir es geschafft, vor dem Mittagessen hier anzukommen, denkt sie. Es ist ja allgemein bekannt, dass man sie zu gar nichts mehr überreden kann, sobald sie erst einmal an der Vorspeise sitzt. »Ich denke, Sie wissen sehr wohl, dass ich bereits eine jüdische Familie aus Stuttgart aufgenommen habe. Wo genau soll ich sie denn in einem Cottage mit drei Schlafzimmern unterbringen?«
»Ich weiß nicht … Sie haben doch sicher einen Dachboden …?«
Felicity Blakemore wirft einen verstohlenen Blick auf das Kind. Strähnige, farblose Haare, die zu fettigen Zöpfen geflochten sind und ein scharfes, gerissenes Gesicht umrahmen. Ihr Teint ist aschfahl, ein Zeichen für Unterernährung, und sie braucht dringend ein Bad, und ihre Kleider … das Einzige, was ihr einfällt, wenn sie dieses Mädchen anschaut, ist der Ofen der Küche im Westflügel.
Und da ist etwas an ihrer Unterlippe, was wie ein Bläschenausschlag aussieht: von der Größe eines Viertelpennys, aufgeplatzt und eiternd. Der Gesichtsausdruck des Kindes ist eine Mischung aus Argwohn, Gleichgültigkeit und – etwas Bösartigem. Etwas, was Mrs Blakemore sagt, dass es sein bisheriges Leben damit verbracht hat, mit der Unerbittlichkeit der brutal Vernachlässigten um Essensreste zu kämpfen. Im Gegensatz dazu wirken die anderen Ankömmlinge trotz ihrer weit längeren Anreise wohlgenährt und gepflegt. Eines der Mädchen weint, und alle vier umklammern Spielsachen und Teddybären, als hinge ihr Überleben von ihnen ab, aber zumindest scheinen sie mit Schuhen und Kleidern zum Wechseln ausgestattet zu sein. Dieses Kind jedoch hat allem Anschein nach gar nichts bei sich, bis auf das, was es am Leib trägt. Wie in aller Welt soll sie jemanden wie die da in einen anständigen Haushalt integrieren?
»Das ist unerträglich«, sagt sie. »Einfach unerträglich.«
Als das Kind merkt, dass es gemustert wird, erwacht es plötzlich zum Leben. Richtet die eiskalten Augen auf seine mutmaßliche Gastgeberin und hält ihrem Blick stand. Und dann lächelt es mit einem Mund voller kurzer grauer Zahnstümpfe. Unerträglich, denkt Felicity Blakemore und gestattet sich, still und damenhaft zu erschaudern.
»Tja, das tut mir wirklich leid«, sagt Mrs Peachment, »aber wir müssen zurzeit alle Opfer bringen. Es herrscht Krieg, wie Sie wissen.«
Mrs Blakemore tritt von der Gruppe zwei Schritte zur Seite, als würde damit eine Decke des Schweigens um sie gehüllt. Oh, oh, denkt Mrs Peachment. Ich bin mir nicht sicher, ob sie heute nicht schon zur Karaffe mit dem Sherry gegriffen hat. Sie steht nicht hundert Prozent sicher auf den Beinen, und dabei ist es gerade erst kurz nach Mittag.
»Erzählen Sie mir nicht, dass Krieg ist! Glauben Sie etwa, das wüsste ich nicht, wo auch mein Mann in den Kampf gezogen ist? Und da seit Wochen kein Stück Schinken oder Butter oder auch nur ein Kanister Benzin zu bekommen ist?«
»Wie ich schon sagte, Felicity …« Margaret bemüht sich, ihren strengsten Tonfall anzuschlagen. Schließlich funktioniert das im Dorf. Im Dorf, da ist sie jemand. »Wir
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