Das Haus der verlorenen Kinder
müssen alle Opfer bringen. Und mein Mann ist in Biggin Hill, wenn ich Sie daran erinnern darf.«
Insgeheim ist sie der Meinung, dass Felicity Blakemore zur schlimmsten Kategorie von Snobs zählt, zu jener Kategorie, die ausgelöscht wird, sobald der Krieg erst einmal vorüber ist und die neue Weltordnung den hart arbeitenden, rechtschaffenen Leuten wie ihr Platz macht. Aber bis dahin muss sie diese Qualitäten nutzen, sonst bleibt das Problem an ihr hängen. Mit der Aussicht konfrontiert, dieses Mädchen, das von den Docks in Portsmouth kommt, aufnehmen zu müssen, war das ganze Dorf plötzlich überbelegt. Selbst der Pfarrer ließ es nach einem kurzen Blick auf das Kind auf einmal an frommer Denkungsart mangeln.
Außerdem möchte ein hässlicher Teil von ihr unbedingt, dass das Mädchen hier bleibt. Es würde Felicity Blakemore mit ihren begrenzten Gästelisten nur recht geschehen.
Sie wählt ihren Tonfall entsprechend, bereitet sich auf eine neue Angriffstaktik vor. »Ich habe immer gedacht«, sagt sie, »es sei entscheidend, dass die Leute, die … dass der bessere Teil der Gesellschaft … ein Beispiel geben wollte. Wie soll ich die anderen Nachbarn überreden, ihren Teil beizusteuern,
wenn die Angehörigen der Elite …?«
Die Frage bleibt unausgesprochen in der Luft hängen.
Das schmutzige Mädchen kratzt sich am Kopf und starrt die beiden an.
»Ich steuere ja meinen Teil bei.« Felicity, die weiß, dass sie auf verlorenem Posten kämpft, bringt das letzte bisschen ihrer aristokratischen Würde auf. »Ich nehme bereits vier von ihnen auf. Vier Kinder, und keinen einzigen Erwachsenen, der mir zur Hand gehen würde. Und die Glovers haben gerade gekündigt.«
»Na ja«, sagt Mrs Peachment, »die Kinder können ja mit anpacken. Sie können ihnen im Nu beibringen, Aufgaben im Haushalt zu erledigen.«
»Ja, klar«, antwortet Felicity. »Das werden die ganz bestimmt tun.«
Der Junge, der neben dem weinenden Mädchen steht, bricht plötzlich ebenfalls in Tränen aus. »Ich will zu meiner Mummy«, heult er. »Ich will nach Hause!«
»Das ist jetzt dein Zuhause, Ted«, sagt Mrs Peachment entschieden. »Und das ist Mrs Blakemore. Sie wird sich um dich kümmern, bis deine Mummy kommen und dich holen kann.«
Felicity war noch nie eine Mutter, die ihre Gefühle den Kindern gegenüber zeigt. Dafür waren schließlich die Kindermädchen da.
»Hör auf zu weinen«, sagt sie.
Er heult nur noch lauter. Ted reibt sich mit den Fäusten die Augen und zieht Streifen vom Schmutz der Zugfahrt über seine geröteten Wangen.
Felicity Blakemore, die allmählich resigniert, streckt die Hand aus. »Kommt schon«, sagt sie. »Lasst uns in die Küche gehen. Da haben wir einen Schmalzkuchen.«
»Gut, na denn, vielen Dank«, sagt Mrs Peachment. »Hier sind die Rationenhefte.«
Mrs Blakemore nimmt die Dokumente entgegen und blättert sie durch. Edward Betts. Pearl O’Leary. Geoffrey Clark. Lily Rickett. Vera Muntz. »Wie heißt die da?« Sie deutet auf den unwillkommenen Neuzugang.
»Lily«, antwortet das Mädchen. »Ich bin Lily Rické.«
Ihr Dialekt ist ein seltsames Gemisch aus West Country und Cockney.
»Gut«, sagt Mrs Blakemore. Dreht den Kindern den Rücken zu und macht sich daran, sie auf das Haus zuzuführen.
»Ich möchte nicht, dass ihr den Haupteingang benutzt«, stellt sie über die Schulter hinweg zu der hinter ihr hertrottenden Schlange fest. »Ihr könnt durch die Spülküche hereinkommen.«
»Puh«, sagt Hugh. »Noch schlimmer als befürchtet.«
»Mitleid erregend«, pflichtet ihm Tessa bei. »Heulsusen.«
»An deiner Stelle würde ich mich von der Letzten da fernhalten«, stellt Hugh fest. »Ich wette fünf Pence, dass die Läuse hat.«
13
Ach, wieder wie ein Kind zu schlafen, so tief und fest, dass die Welt nicht eindringen kann.
Ich vermute, dass ich tiefer geschlafen habe als erwartet, denkt Bridget. Ich habe gar nicht bemerkt, wie sie in der Nacht hereingekommen ist, aber sie muss schon eine ganze Weile hier sein und sich neben mir zusammengerollt haben.
Yasmin rührt sich kaum, als sie ihr einen Kuss auf die Stirn drückt, ihr eine feuchte Locke aus dem Gesicht streicht und schließlich aus den Federn steigt. Es scheint heute nicht ganz so kalt zu sein. Natürlich nicht. Ein wässriger Sonnenschein dringt am Rand der Vorhänge ein. Der Sturm muss sich letzte Nacht wohl ausgetobt haben.
Bridget fischt ihre Sportschuhe unter dem Bett hervor, greift nach ihrer Übernachtungstasche, die sie
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