Das Haus der verlorenen Kinder
jemand zu ihr kommt, nach ihr sucht und sie um Hilfe bittet.
Sie fängt an, die Figurinen umzustellen. Sie sind, wie Bridget bemerkt, wieder umgedreht worden, sodass sie nach hinten blicken. Eine seltsame Obsession, und eine, die scheinbar jeden erfasst, der hier vorbeigeht. Vielleicht wollen die Gordhavos ja, dass sie so stehen – aus irgendeiner Familientradition heraus –, und sie ist diejenige, die sie immer falsch hinstellt.
Ms Aykroyd steht neben ihr. »Es tut mir schrecklich leid«, sagt sie.
»Ist schon in Ordnung.«
Offensichtlich hofft sie, sich verziehen zu können. Bridget hat nichts dagegen. Sie möchte sowieso nicht in eine lange Unterhaltung verwickelt werden. »Sie können gehen«, sagt sie. »Ich mache das schon.«
»Sind Sie sicher?« Sie klingt erleichtert. Allerdings wäre sie bestimmt sauer, wenn ich verneinen würde. »Selbstverständlich«, versichert ihr Bridget. »Dafür bin ich ja da.«
»Na ja …« Ms Aykroyd wirft ostentativ einen Blick auf ihre Uhr. »Ich denke, ich sollte … bald ist Zeit fürs Mittagessen. Wenn Sie sicher sind, dass …?«
Ach, geh schon, denkt Bridget verärgert. »Allein werde ich viel schneller damit fertig«, sagt sie.
Ein Krach oben, gefolgt von Geheule. Zu schwer, denkt Bridget. Zu groß, als dass es mein Kind sein könnte. »Ach, meine Liebe«, seufzt Ms Aykroyd. Alle anderen Erwachsenen unternehmen einen Tagesausflug nach Tintagel. »Ich sollte lieber gehen und …«
»Ja«, antwortet Bridget. »Ich denke, das ist eine gute Idee.«
Nenn-mich-Stella geht davon und verschwindet im Salon. Bridget schlägt einen Lappen auf und streckt sich mit dem stoffumwickelten Finger zum Spiegel vor. Die Lippenstiftschicht ist dick, als wäre er erwärmt und mit einem Pinsel aufgetragen worden. Erstaunlich. Würde mein Kind so etwas tun, dann würde ich …
Plötzlich sind von oben Stimmen zu hören. Im Gleichklang: laut und organisiert. Sie zählen, langsam und deutlich.
Eins … zwei … drei …
Sie hört, dass eine Tür aufgeht, und das Geräusch rennender Füße. Da ist irgendein Spiel im Gange.
Die Schritte hasten einen Augenblick hin und her, als wäre derjenige unentschlossen, welche Richtung er einschlagen soll, dann gehen sie durch den Korridor auf die Treppe zum Speisezimmer zu. Als sie herunterkommen, hält Bridget in ihrer Putzarbeit inne und dreht sich um, um zu sehen, wer da kommt.
Es ist Yasmin. Sie sieht fast so ungepflegt aus wie die Aykroyds. Jemand hat ihre langen dunklen Haare zu einem halben Dutzend Zöpfe geflochten und sie mit Stoffstreifen hochgebunden, sodass sie wie eine kleine und ziemlich alberne Medusa aussieht. Sie ist barfuß und scheint so etwas wie ein Partykleid zu tragen: aus pastellblauem Satin, mit vielen Löchern, mehrere Größen zu groß und mehrere Jahrzehnte zu alt für sie. Sie kommt am Fuß der Treppe an und bemerkt auf diese typisch kindliche Weise erst als sie dort anlangt, dass ihre Mutter hier steht. Sie erschrickt, lacht über ihre eigene Dummheit, dann grinst sie.
Zwölf … dreizehn … vierzehn …
»Was in aller Welt hast du da denn an?«
»Ach«, sagt sie kühl, schaut an sich hinab und reibt den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger, »Sachen zum Verkleiden. Ich hab sie auf dem Dachboden gefunden. Da steht eine große Truhe. Lily hat sie mir gezeigt.«
Bridget hat nicht die geringste Ahnung, wer Lily ist. Weiß nicht einmal, ob eine Lily zu den Aykroyds gehört, die allem Anschein nach allesamt Namen wie Sommer oder Mondschein haben – sie fragt sich, ob irgendwo in einem anderen Universum eine Art von Anti-Hippie-Kultur existiert, die Spaß daran hat, Steuererklärungen auszufüllen und ihren Kindern Namen nach Naturbegriffen wie Winter und Schlammlawine gibt, welche die Blumenkinder meiden –, oder ob es sich bei dieser Lily um eines der Kinder aus dem Dorf handelt.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ihr diese Sachen anziehen dürft«, sagt sie. »Ich weiß nicht, ob Mr Gordhavo …«
»Lily hat gesagt, dass es in Ordnung ist«, versichert ihr Yasmin. »Sie sagt, dass sie sie immer anzieht.«
Dreiundzwanzig … vierundzwanzig …
Yasmin wirft einen entsetzten Blick über die Schulter. Bridget hat ganz vergessen, welch intensive Gefühle ein Kinderspiel auslösen kann.
»Ist egal«, sagt sie. »Wir können später darüber reden. Was spielt ihr denn? Verstecken?«
»Nein«, antwortet Yasmin. »Sardinen. Ich muss mich verstecken, und alle anderen müssen mich finden und sich zu mir in mein
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