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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
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rote Wangen haben, offenbar reichlich Vitamine bekommen und jeden Abend gebadet werden. Die da hat eher eine gräulich-gelbe Gesichtsfarbe. Hohle Wangen und große dunkle Ringe unter den Augen, und Arme bleich wie Treibgut. So, wie ihre Haare aussehen, hat jemand ihr mit der Küchenschere einen schlechten Haarschnitt verpasst. Und sie mit Sachen aus der Kleiderkammer einer Wohltätigkeitsorganisation gekleidet.
    »Wo in aller Welt kommst du denn her?«, fragt sie.
    Das Mädchen bleibt wie angewurzelt in der Tür stehen und starrt Bridget an, als würde es sie hassen. Ihr läuft ein leichter Schauer über den Rücken. Es hat einen gemeinen Zug um seinen kleinen Mund. Übellaunig, abschätzig.
    »Bist du auf der Suche nach Yasmin?«
    Das Kind verschränkt die Arme und kneift die Augen zusammen. Reckt das Kinn und wirft Bridget einen richtig giftigen Blick zu.
    »Ich war es nicht«, sagt sie. »Ich bin es nicht gewesen, verflucht noch mal.«

19
    Sie wartet nicht auf die anderen. Die würden ja auch nicht auf sie warten, und sie ist einfach zu glücklich. Sie will nicht, dass die anderen ihr Glücksgefühl zerstören. Das ist mein Tag, denkt sie. Mein Tag. Heute habe ich eine Auszeichnung erhalten, und dabei habe ich noch nie zuvor einen Preis bekommen.
    Sie kämpft sich durch das Schultor, wird von anderen Schülern angerempelt, die jetzt, am Schuljahresende, alle hinausrennen, um in die langen Sommerferien zu starten, und sie wird vorübergehend vom grellen Licht geblendet. Während sie alle im Schneidersitz die stundenlange Versammlung über sich ergehen ließen – selbst eine Schule mit nur sechzig Schülern kann die Preisverleihung bis Mittag ausdehnen –, ist die Sonne zwischen den Wolken hervorgebrochen und taucht die Felder rund um Meneglos in Gold.
    Ich habe gewonnen, denkt sie. Ich habe einen Preis gewonnen. Sie drückt sich die erste – und letzte – handgeschriebene Urkunde, auf der ihr Name steht, mit Ausnahme ihrer Geburtsurkunde, an die Brust, während sie von der Gruppe davonschlendert. Niemand bemerkt, dass sie geht. Niemand möchte, dass sie bleibt. Auf dem Schulhof wird gerade mit einem Baseballspiel begonnen, und niemand wird sie in seinem Team haben wollen. Das weiß sie, ohne sich der Demütigung der Teamzusammenstellung auszusetzen. Aber Lily ist es egal. Es ist ihr völlig schnuppe. Sie war ihr ganzes Leben lang eine Außenseiterin. Das fällt ihr kaum mehr auf.
    Das hier können sie mir nicht wegnehmen. Das ist etwas, was sie mir nicht mehr nehmen können. Ich kann von allen Schülern dieser Schule am besten zeichnen, und das kann mir keiner nehmen.
    Plötzlich hat sie eine Welt voller Möglichkeiten vor Augen. Ich kann Künstlerin werden. Wenn ich groß bin. Dafür zahlen die Leute Geld. Viel Geld. Die alte Blakemore redet ständig davon, wie viel ihre blöden Bilder wert sind, und dabei sind meine viel besser. Meine Kinder sehen wenigstens wie Kinder aus. Ihre wirken wie kleine Erwachsene mit riesengroßen Kürbisköpfen obendrauf. Wie Zwerge. Meine sehen wenigstens so aus, als könnten sie sich bewegen. Das hat Mrs Carlyon gesagt. Vor der ganzen versammelten Schule. Sie hat gesagt, ich sei die beste Zeichnerin, die sie je unterrichtet hat, und das können sie mir nie mehr nehmen.
    Weil sie nicht gewohnt ist zu lächeln, zuckt ihre Wange, schmerzt ein wenig, während sie die Straße entlanggeht. Da sind Blüten an den Hecken – in Portsmouth hat Lily nie eine Hecke gesehen, weil sie es nie bis in die Vororte geschafft hat, wo die Hecken ordentlich gestutzt und geschnitten sind, deshalb weiß sie nicht, dass die Hecken in Cornwall, von weichem Moos bedeckte stahlgraue Schiefermauern, eigentlich keine Hecken sind, wie sie der Rest des Landes kennt –, und plötzlich bemerkt sie zum ersten Mal in ihrem Leben, wie schön sie sind.
    Ich werde den ganzen Sommer üben, denkt sie. Irgendjemand wird mir einen Job geben, dann verdiene ich genug Geld, um mir ein paar Pinsel und Papier zu kaufen, und dann werde ich den ganzen Sommer damit verbringen … vielleicht lässt mich Tessa sogar ihre benutzen, wenn ich sie darum bitte. Wenn ich nett bin. Sie hat mehr, als sie braucht. Sie hat zwei Sets. Das kann sie doch nicht alles nur für sich haben wollen.
    Ich werde überall hingehen. Ich werde alles malen, die Straßen und die Hecken, das Moor und unten den Fluss. All diese Farben. Dieser große Baum im Garten, der, an dem die Schaukel hängt. Auf den ersten Blick wirkt er schwarz, aber wenn man

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