Das Haus der verlorenen Kinder
gar nichts passiert. Das Klavier im Wohnzimmer ist aufgeklappt und getestet worden, ob es auch gestimmt ist, und jeden Abend wird darauf gespielt. Das gefällt ihr, wenn mitten in der Nacht der Klang von Jazz aus den Fünfzigerjahren, von Unterhaltungsmelodien und – wenn die Leidenschaft für die Heimat oder der einheimische Cidre die Oberhand gewinnt – vom laut gegrölten Gesang von »Trelawny« durchs Haus driftet.
Ein Teil von ihr fühlt sich aufgeheitert. Ein anderer dagegen fühlt sich einsamer als zuvor. Bridget hat nie genügend Freunde gehabt, um eine riesige Hausparty zu feiern wie diese hier: zwölf oder zwanzig Leute, die alle um einen Tisch sitzen, Gemüselasagne futtern und sich heiser reden. Das ist nicht die Art und Weise, wie ihre Eltern gelebt haben und irgendjemand sonst, den sie kennt. Partys, Vor-Kieran-Partys, waren gewöhnlich solche, bei denen man sein eigenes Wort nicht mehr verstand, von Gesang ganz zu schweigen, und zwar in Lokalen, die in dem betreffenden Jahr eben gerade »in« waren. Sie ist ein Kind des Club-Booms. Beweis dafür ist ihr Tinnitus. Selbst wenn sie nicht in riesigen Flugzeughangars stattfanden, wo die Lautsprecher eine Million Watt hatten und die Feuchtigkeit bei über hundert Prozent lag, war es selbstverständlich, dass man, wenn Leute zu Besuch kamen, als allererstes die Stereoanlage auf volle Lautstärke aufdrehte.
Sie ist sich nicht sicher, ob sie sich jemals mit mehr als einem Menschen auf einmal unterhalten hat. Alles, was sie damals in Sachen geselliger Unterhaltung kennenlernte, hatte mit dem Austausch von Mitteilungen zu tun: Wenn man die Lippen ans Ohr eines anderen drückt und den Kopf vorbeugt, wenn sie das Gleiche bei dir tun; und man sieht nie den Ausdruck auf ihrem Gesicht, wenn sie hören, was du ihnen gerade ins Ohr brüllst.
Welche Ironie. Da haben wir uns also amüsiert, aber es nie geschafft, Freunde zu gewinnen. Der einzige Mensch, außer Kieran, mit dem ich als Erwachsene je wirklich lange Unterhaltungen geführt habe, war Carol, und das kam auch nur daher, weil sie über mir gewohnt hat, nicht etwa dank meines gesellschaftlichen Lebens. Eigentlich habe ich nicht einmal mit Kieran viel geredet, nicht einmal zu Beginn. Wir waren immer erschöpft vom Sex oder hatten einen Kater, und später habe ich es vermieden, mit ihm zu reden, weil ich nie wusste, wohin das führen würde. Dumm, nicht wahr? Wie die Menschen ihr ganzes zukünftiges Glück auf Dinge gründen, wie zum Beispiel, ob sie in die gleiche Art von Lokalen gehen oder ob die Freunde beeindruckt sind, wenn ein Typ in einem Audi aufkreuzt. Dass sie nie überlegen, was passiert, wenn sich die Mode ändert und man kein Ecstasy mehr einwerfen kann, weil das dem Baby schaden würde.
Aber sie waren nett zu Yasmin. Sie schlossen sie in alles mit ein. Jeden Morgen nach dem Aufwachen scheint sie mit dem einen oder anderen Kind durch den Korridor zu rennen, manchmal mit einem ganzen Dutzend. Sie hat auch ein paar Kinder aus dem Dorf kennengelernt, und die Aussicht, hier in die Schule zu gehen, kommt ihr inzwischen nicht mehr so schlimm vor. Vielleicht freundet sie sich ja im Laufe der Zeit mit einigen richtig an.
»Ich sage Ihnen was«, erklärt sie Ms Aykroyds Rücken. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Yasmin nicht so viel von Geistern erzählen würden. Sie ist erst sechs, und ich kann gern darauf verzichten, dass ihr Flausen in den Kopf gesetzt werden, die ihr Angst machen, wenn das Haus leer ist.«
»Ach, Liebes«, antwortet Ms Aykroyd. »Das ist doch nur ein Spiel.«
»Und sie ist erst sechs«, wiederholt sie und versucht freundlich, aber entschieden zu klingen. »Sechsjährige wissen da nicht immer zu unterscheiden.«
»Na ja, man kann nie früh genug damit anfangen, ihre Fantasie anzuregen. Das gehört dazu, wenn man will, dass sie einen freien Geist entwickeln.«
Sie bleiben vor der Anrichte stehen. Eine Kinderhand hat mit leuchtend rotem Lippenstift VERPISST EUCH auf den Spiegel geschrieben.
Wenn das ein Beispiel für Freigeistigkeit ist, denkt Bridget, dann bin ich sofort für Beschränkungen. Aber selbstverständlich sagt sie nichts. Das steht ihr nicht zu. Sie ist Haushälterin, das darf sie nicht vergessen. Schließlich wird sie für ihre Diskretion bezahlt. Diskretion und jene Art von gleichgültiger Effizienz, die dazu führt, dass sich die zahlenden Gäste hier wohlfühlen. Sie hat jetzt, da sie sich eingerichtet haben, schließlich nur dann mit diesen Leuten zu tun, wenn
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