Das Haus der verlorenen Kinder
Yasmin.
Zwei weitere Atemzüge. Sie setzt ein Lächeln auf und wendet sich wieder dem Raum zu.
»Niemand«, antwortet sie. »Verwählt. Ist das zu fassen? Selbst an Weihnachten versuchen die noch, einem Sachen anzudrehen!«
22
Wie kann etwas so Gutes ein so schlechtes Ende nehmen?
Diese Frage hat sie sich millionenfach gestellt. Sie ist ihre Geschichte wieder und wieder durchgegangen. Hat Phasen, Ereignisse, Aussagen und Blicke wieder und wieder durchlebt und nach der Lösung, der Wahrheit gesucht.
Lag es an mir? Hatte es etwas mit mir zu tun? Habe ich ihn dazu getrieben, habe ich aus einem Alphamännchen einen Tobsüchtigen gemacht?
Oder war es etwas, was ich nicht sehen konnte? War ich von meinem Wunsch, von meiner Sehnsucht nach Liebe, von meinem arroganten Glauben in meine Urteilsfähigkeit so geblendet, dass ich die Anzeichen, die schon immer da waren, nicht sehen konnte?
Liegt es an mir? Bin ich einfach dumm? Gehöre ich zu jenen dummen Frauen, die sich so etwas selbst aussuchen? Kann ich mir je selbst vertrauen? Kann man mir wirklich vertrauen? Wie kann man mir zutrauen, mich gut um meine Tochter zu kümmern, sie zu beschützen, ihr zu zeigen, wie man überlebt, wie man stark wird, wenn ich nicht einmal den Güterzug sehen konnte, als er direkt auf mich zugedonnert kam?
Yasmin ist hinuntergegangen, um mit den Aykroyds Scharaden zu spielen, und Bridget hat sich den Luxus gegönnt, ein Glas Gin zu trinken und ein paar Tränen zu vergießen.
Er war so schön. Daran kann sie sich noch gut erinnern. Sie war, als sie ihn zum ersten Mal sah, von seiner Schönheit geblendet. Er hatte sensible Augen. Sie erinnert sich, das damals gedacht zu haben. Blau, waren sie, und von langen schwarzen Wimpern umrahmt.
Augen sind nicht sensibel. Sie sind lediglich das Produkt deines Erbguts. Ich hätte auf seinen Mund schauen sollen. Mich nicht von der Lust überwältigen lassen dürfen, in ihn Qualitäten hineinzuprojizieren, die er gar nie hatte. Es ist der Mund, nicht die Augen, der das Fenster zur Seele darstellt. Aber auch Lippen können natürlich täuschen. Heruntergezogene Mundwinkel können ein Zeichen großer Traurigkeit, aber auch ständigen Missmuts sein. Sind sie nach oben gezogen und bildet sich darunter ein Grübchen, dann sagt einem dies wahrscheinlich, dass man es ebenso mit Selbstzufriedenheit wie mit Humor zu tun hat. Aber letzten Endes verrät dein Mund weit mehr über deinen normalen Gesichtsausdruck als deine Augen.
Kierans Oberlippe war schmal, aber sie war geschwungen. Hätte sie ihren Verstand beisammengehabt, dann hätte sie gesehen, dass dieser Bogen jene Form hatte, die man bekommt, wenn man viel Zeit damit verbringt, spöttisch zu grinsen. Aber das tat sie nicht. Sie sah:
– den muskulösen Oberkörper
– den Armani-Anzug
– das Audi-Kabriolet, das achtlos am Straßenrand geparkt war
– das Zwinkern, als er sie zu sich an den Tisch zog
– die dichten und glänzenden irisch-schwarzen Haare, in die man einfach hineingreifen musste. Und sie dachte:
– das will ich
– ich möchte diese Arme berühren
– ich möchte auf diesem Beifahrersitz sitzen.
Das ist die Strafe dafür, denkt sie. Die Belohnung des Karmas für meine hohlen Ziele. Dass ich mir den Vater meines Kindes anhand eines schicken Autos und eines gut geschnittenen Kieferknochens ausgesucht habe.
Aber er war schön, und ihr stockte der Atem, als er auf die Theke zukam. Lass das, dachte sie. Er wird für seine Freundin Blumen kaufen wollen. Das sind die einzigen Männer, die wir mit Ausnahme von Muttertag und Valentinstag hier zu Gesicht bekommen: Männer, die etwas wiedergutzumachen haben. Männer, die hoffen, eine wütende Frau irgendwie zu besänftigen und ihre Gunst zurückzugewinnen. Bridget setzte ihre professionellste Miene auf und konzentrierte sich darauf, einen großen Stoß rosafarbener Rosen durchzusehen, die in Schachteln von New Covent Garden angeliefert worden waren.
Er blieb vor der Theke stehen. Stützte eine Hand auf den Stapel Seidenpapier, bereitgelegt, um darin Sträuße einzuwickeln. Er trug eine Rolex Oyster, wie sie bemerkte. Eine Uhr, die sechs Riesen wert war, und das in einem kleinen Geschäft an Lavender Hill. Die Nägel waren frisch manikürt. Hier hatte sie noch nie einen Mann mit manikürten Fingernägeln gesehen, wohl aber viele der Banker in Chelsea, deren Wohnungen, in die sie ständig Blumen lieferte, immer blitzblank aussahen.
Sie atmete tief durch. Richtig tief. Sie schaute auf,
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