Das Haus der verlorenen Kinder
diesem Dorf gibt es ein paar Frauen, bei denen es ähnlich ist. Sie werden in guter Gesellschaft sein. Etwas Mincepie?«
»Ja, bitte«, antwortet Bridget.
»Ich mag ihn eigentlich nicht ohne Weinbrandbutter. Jedenfalls nicht mit Mürbeteig.«
»Ich weiß, was Sie meinen.«
»Die Pfarrersfrau hat ihn gebacken, deshalb muss man wenigstens so tun, als würde er schmecken.«
»Unbedingt.«
Sie beißen hinein und kauen. Der Kuchen ist schwer, wie aus Silikon, und er enthält kaum mehr als einen halben Teelöffel Füllung. Chris spuckt ein paar Krümel aus, als sie weiterspricht: »Und, haben Sie schon jemanden kennengelernt?«
»Eigentlich nicht. Ich hatte noch keine Gelegenheit. Mrs Varco. Sie. Mrs Walker …«
»Geht mit der Schule alles glatt?«
»Ja. Sie fängt im neuen Jahr an.«
»Gut. Es wird ihr bestimmt gefallen.«
»Das hoffe ich. Ich mache mir Sorgen, dass sie im Stoff hinterherhinken könnte. Sie wissen ja. Die Schulen in London sind doch alle …«
»Na ja, mal angenommen, sie kommt in eine Klasse mit drei mir bekannten Kindern zusammen, die alle miteinander verwandt sind«, sagt Chris, »die aber angeblich aus verschiedenen Familien stammen, dann würde ich mir keine allzu großen Sorgen machen. Sie ist blitzgescheit, Ihre Kleine.«
»Danke.«
»Keine Ursache.«
Eine Frau in einem marineblauen Sackkleid gesellt sich zu ihnen. Sie balanciert eine Tasse Tee auf der Untertasse. »Frohe Weihnachten«, sagt sie.
»Frohe Weihnachten, Geraldine.«
»Schmeckt es?«
»Bestens. Danke. Sie müssen ja eine Ewigkeit in der Küche gestanden haben.«
»Es ist nichts zu viel«, sagt sie mit einem bescheidenen Lächeln, »wenn es dem Herrn dient.«
Das muss die Pfarrersfrau sein. Sie wendet sich an Bridget. »Ich glaube, wir haben uns noch nicht kennengelernt«, stellt sie fest. »Wohnen Sie bei den Kirklands?«
»Nein …«, hebt Bridget an, aber Chris fällt ihr sogleich ins Wort.
»Das ist Bridget Sweeny«, sagt sie. »Sie hat gerade als Haushälterin in Rospetroc angefangen.«
Die Frau zieht die Augenbrauen hoch. »Ach! Ich habe schon gehört, dass sie jemanden gefunden haben.«
»Das bin ich.«
»Und, wie kommen Sie zurecht?«
»Gut. Danke.«
»Nicht zu einsam?«
»Nicht im Geringsten. Im Moment ist das Haus ohnehin voll.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen. Um die Weihnachtszeit ist es immer viel besser. Ansonsten ist es ein schrecklich großer, leerer Kasten.«
»Ach, so schlimm ist es nicht«, sagt Bridget. »Und ich habe gute Schlösser an der Wohnungstür.«
»Gut, gut«, wiederholt die Pfarrersfrau. »Haben Sie meinen Mann schon kennengelernt?«
»Noch nicht. Hallo.«
»Wie geht es Ihnen?« Der Pfarrer ist ein hagerer Mann mit Brille und einem Kranz weißer Haare im Nacken, ein Mann, der aussieht, als nähme er das Armutsgelübde sehr ernst. »Und frohe Weihnachten für Sie«, fügt er mit der reflexartigen Güte einer königlichen Hoheit beim Bad in der Menge hinzu und schüttelt ihr mit beiden Händen nach Schauspielermanier heftig die Hand.
»Ihnen auch«, antwortet sie automatisch. »Ein schöner Gottesdienst. Vielen Dank.«
»Nein«, sagt er, »ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind.«
»Ms Sweeny hat gerade in Rospetroc angefangen«, erzählt ihm seine Frau.
Wieder werden die Augenbrauen hochgezogen. »Tatsächlich?«
»Ja«, antwortet Bridget.
»Na ja. Ich hoffe, dass Sie dort glücklich sind. Ihre Vorgängerin haben wir leider nicht häufig zu Gesicht bekommen.«
»Frances Tyler.«
Er blickt ein wenig unsicher drein. »Sie war allerdings auch nicht lange hier.«
»Nein, das habe ich gehört.«
»Sie hat es leider nicht geschafft, sich hier richtig einzuleben.«
»Nein.«
»Eine nette Frau«, stellt Chris fest. »Hat jede Menge Toffee gegessen.«
»Frohe Weihnachten«, sagt der Pfarrer. Und schüttelt ihr nach Meneglos-Art fest die Hand.
»Ihnen ebenfalls.«
»Und wie geht es den Kleinen?«
»So klein sind sie nun auch wieder nicht«, antwortet Chris. »Deshalb sind sie so verkatert.«
»Ah, verstehe«, sagt er. »Haben Sie Ms …«
»Sweeny«, springt Bridget ein. »Ja, wir haben uns schon miteinander bekannt gemacht.«
»Gut«, sagt er. »Gut.«
Wieder schaut sie nach Yasmin. Sie unterhält sich gerade mit einem etwa gleichaltrigen Mädchen in pinkfarbener Latzhose und orangefarbenem Pullover. Inzwischen leert sich der Saal. Jeder, der Familie hat, geht nach Hause, um den Truthahn zu begießen. Nur Leute, die allem Anschein nach über sechzig sind,
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