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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
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gehört habe, aber immerhin müssen meine Stiefmütterchen nicht leiden.
    Er hat es sogar geschafft, einen Sack guten Pferdedung aus den Stallungen der Milchfarm zu schnorren, ein unerhörter Triumph und wahrscheinlich gesetzeswidrig, weil ja alles der landwirtschaftlichen Produktion dienen soll, aber die Blumen der Bodmin Road waren schon sein ganzer Stolz gewesen, bevor Hitler und seine Horden kamen, und er würde sie auf gar keinen Fall eingehen lassen, bloß weil Krieg ist.
    Arthur Boden füllt zum fünften Mal seine Gießkanne mit dem grünlichen Wasser der Pferdetränke auf und schlurft bis zum anderen Ende des Bahnsteigs. Es ist ein schöner Tag – ein herrlicher Tag, perfekt, um die Luftkämpfe entlang der Kanalküste zu beobachten –, und er hat sich für die Arbeit seine Jacke ausgezogen. Es ist in diesen Zeiten des Mangels leichter, die Schweißflecken aus einem Hemd zu waschen, als eine Uniform gereinigt zu bekommen. Er summt vor sich hin, während er die Gießkanne schleppt, und kneift die Augen zusammen, weil die Sonne ihn so blendet.
    Da sitzt ein kleines Mädchen auf der Bank hinter dem Blumentrog. Die Blumen blühen so großartig, und das Kind ist so dürr und farblos, dass er es bis jetzt gar nicht bemerkt hat. Er kann sich nicht erinnern, dass sie durch den Fahrkartenschalter gekommen ist, aber er ist ja erst seit Mittag im Dienst. Sie trägt ein Kleid, das vielleicht einmal aus rotem Gingham genäht wurde, aber inzwischen ist es so ausgewaschen, dass man das nicht mehr mit Sicherheit sagen kann. Es passt ihr nicht, ist ihr viel zu groß und wurde an den Achseln sehr notdürftig geflickt. Es sind jedoch ihre Haare, die seine Aufmerksamkeit erregen. Sie stehen ihr vom Kopf ab, als wären sie erst kürzlich grob gestutzt worden. Nissen, denkt er. Die hat bestimmt Läuse gehabt.
    Er bleibt vor ihr stehen und spürt, wie ihm die Gießkanne gegen die Schienbeine schlägt.
    »Was?«, fragt sie. Herausfordernd.
    »Der nächste Zug kommt erst in vier Stunden«, sagt er. »Bist du sicher, dass du hier richtig bist?«
    »Was geht dich das an?«
    Arthur Boden plustert sich auf, verärgert, dass seine Autorität in Frage gestellt wird. »Ich bin der Bahnhofsvorsteher, junge Dame«, informiert er sie, »und ich habe hier sehr wohl das Recht zu erfahren, was die Leute vorhaben. Wir haben Krieg, weißt du.«
    »Ja, ja, ja«, antwortet das Kind. »Leg eine andere Platte auf. Die hat einen Kratzer.«
    »Na, das ist noch lange kein Grund, unhöflich zu sein«, sagt er. Geht davon, um die Stiefmütterchen zu gießen, und schimpft leise auf die jungen Leute und die modernen Zeiten vor sich hin.
    Sie rührt sich auf der Bank nicht von der Stelle, während er die mit Kompost gefüllten Kübel gießt und spürt, wie dankbar die Pflanzen sind, als das Wasser ihre Wurzeln erreicht. Es ist komisch, denkt er, wie ein Garten, sobald man sich richtig um ihn kümmert, auf einmal zum Leben erwacht. Man kann praktisch sehen, wie die Pflanzen sich recken und vor Freude lachen, wenn man ihnen etwas zu trinken gibt. Fast wie bei den Menschen, ehrlich. Wie am Samstagabend beim Veteranentreffen. Ich muss daran denken, es Ena zu erzählen, wenn ich nach Hause komme.
    Das Kind fängt an, mit den Beinen zu schaukeln, sie unter der Bank hin und her baumeln zu lassen, mit den Fingern die Latten umklammernd, um besseren Halt zu haben. Was für eine Art und Weise, einen Sommernachmittag zu verbringen. Einfach nur an einem leeren Bahnsteig zu sitzen und nach Erwachsenen Ausschau zu halten, zu denen man unhöflich sein kann. So etwas ist auf dem Land nicht üblich. Ich hätte eins hinter die Ohren bekommen, wenn ich mehr als zehn Minuten auf der Dorfbank verbracht hätte. Um die Wahrheit zu sagen, dieses Land geht noch vor die Hunde. Die deutschen Luftangriffe auf London treiben all die verwahrlosten Slumbewohner aufs Land, wie Ratten von einem sinkenden Schiff, und die bringen ihre städtischen Gewohnheiten an Orte mit, an denen diese gar nicht erwünscht sind. Der Hälfte dieser Leute kann man nicht den Rücken zukehren, ohne dass sie mit allem, was nicht niet- und nagelfest ist, verduften.
    Er schaut sie wieder an. Gemeines Gesicht, denkt er. Armes kleines Ding. Wahrscheinlich hat sie nie eine Chance gehabt, woher sie auch stammen mag. Hat nie Gemüse gesehen, bevor sie hierher gekommen ist, und nie frische Luft geatmet. Er wird nachsichtiger, nähert sich ihr wieder.
    »Möchtest du irgendwohin fahren?«
    Das Kind verdreht frech die

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