Das Haus der verlorenen Kinder
gebrochenen Knochen, wegen des Ausdrucks im Blick ihrer Tochter, den sie jetzt schon seit Wochen nicht mehr gesehen hat.
»Du wirst uns nie finden. Hörst du mich? Es ist vorbei! Geh und such dir eine andere, mit der du so umspringen kannst!«
Bridget drückt den Daumen auf die Taste, um das Gespräch zu beenden, und wirft das Handy aufs Sofa. Es prallt von einem Kissen ab, fällt auf den Boden und rutscht unter den Sessel. Bridget schlingt die Arme um sich, schiebt sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie fühlt sich zittrig, stark, schwach, den Tränen nahe, mutig. Sie fühlt sich frei und gefangen, wütend und zufrieden. Sie hat ihm Bescheid gestoßen. Hat ihm endlich die Meinung gegeigt. Ihm alles ohne Angst vor Vergeltung oder Konsequenzen ins Gesicht gesagt. Richtig, denkt sie. Und jetzt führen wir unser Leben weiter. Ich werde mir ein neues Handy kaufen. Dieses da auf dem Boden liegen lassen. Soll es doch klingeln, bis die Batterien leer sind.
Sie dreht sich um und will in die Küche gehen.
Yasmin steht in der Tür. Sie ist leichenblass. Als hätte sie ein Gespenst gesehen.
31
»Mummy?«
Sie taucht aus dem Schlaf auf, fühlt sich schwer, als seien Bleigewichte an ihren Gliedern befestigt. Die Uhr zeigt 3:17 an. Ihr Mund ist trocken und pelzig.
Da steht eine kleine Gestalt in der Tür.
Sie presst die Lippen zusammen, löst die Zunge von ihrem Gaumen. »Was ist, Baby? Was ist los?«
»Kann ich zu dir kommen?«
»Was ist passiert?«
»Ich habe Daddy in meinem Zimmer gesehen.«
»Ach, Schätzchen.«
Sie hebt die Bettdecke an, rutscht ein Stück zur Seite. Yasmin kommt durchs Zimmer und schlüpft neben sie. Das ist falsch. Aber es ist nach drei, und mein Baby ist ganz aufgelöst.
Yasmin riecht nach Puder und Kindershampoo. Bridget schließt den zerbrechlichen kleinen Körper in die Arme.
»Er hat unten an meinen Bett gestanden«, erzählt Yasmin. Sie klingt – niedergeschlagen, erschöpft.
»Ach, Darling«, sagt sie wieder. Damit hatte sie halb gerechnet. Wann immer es in London einen Zwischenfall mit Kieran gab, war Yasmin tagelang anhänglich und nervös, folgte ihr von einem Zimmer ins nächste und veranstaltete ein Riesentheater, wenn sie aus dem Haus gingen. Ich kann nicht erwarten, dass sich das schon nach ein paar Wochen legt. Sie hat ihr ganzes Leben in der düsteren Aussicht gelebt, dass er eines Abends hereinkommen würde; eine solche Geschichte schüttelt man nicht einfach ab, indem man umzieht.
»Du weißt, dass das nur ein Traum war, nicht wahr?«
Sie spürt, wie Yasmins Haare über ihre Wange streichen, als sie nickt. »Aber ich träume von ihm.«
»Ich weiß. Das mache ich auch, manchmal. Aber Schätzchen, das sind nur Träume. Nichts, was in einem Traum vorkommt, kann dir wehtun. Das ist nur – das spielt sich nur im Kopf ab. Träume sind gut. Das sind Erinnerungen, die gelöscht werden.«
»Aber warum müssen sie dann so unheimlich sein?«
»Weil … Ich weiß nicht, Schätzchen. Das ist nur einer dieser kleinen Tricks der Natur.«
»Chloe sagt, dass man wirklich bald sterben muss, wenn man in einem Traum stirbt.«
»Ja, ich weiß. Das sagen alle. Natürlich kann man unmöglich herausfinden, ob das tatsächlich stimmt.«
Aber ich habe mich in meinen Albträumen immer gerettet, nicht wahr?
Bin immer gerade rechtzeitig aufgewacht, bevor ich auf dem Boden aufschlug, oder habe, als ich nur noch ein paar Zentimeter vom Pflaster entfernt war, dank meiner Willenskraft wieder an Höhe gewonnen.
»Ich möchte nicht, dass er uns findet«, sagt Yasmin.
»Ich weiß, Baby, ich weiß.«
»Er wird uns doch nicht finden, oder?«
»Nein«, antwortet sie entschieden, herausfordernd. »Und er wird auch nicht mehr anrufen. Ich kaufe mir ein neues Telefon, und dann kann er uns gar nicht mehr anrufen.«
»Versprichst du es?«
Wie kann ich das versprechen? Wie kann ich etwas versprechen, dessen ich mir selbst nicht sicher bin? Wie können Eltern ihre Kinder nur der Bequemlichkeit halber so unbekümmert anlügen?
Sie rutscht ein Stück, zieht ihre Tochter näher an ihre Brust und drückt ihr einen Kuss oben auf den feuchtwarmen Kopf. »Ich verspreche es dir, Baby«, sagt sie. »Du bist hier sicher. Hier kann uns nichts und niemand wehtun.«
32
Zumindest rationieren sie das Wasser nicht, denkt er. Auch wenn ich, um Brennstoff zu sparen, die Wanne nur knapp zehn Zentimeter hoch einlaufen lassen kann, wenn ich ein Bad nehme, und ich habe drei Söhne, von denen ich seit Wochen nichts
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