Das Haus der verlorenen Kinder
eingesperrt.«
Hmmm, denkt er. Die hat wohl eine lebhafte Fantasie.
»Und sie hat mich geschlagen und so«, erzählt sie.
»Dich geschlagen? Weshalb?«
»Wofür ist doch ganz egal! Ich hab gar nichts Schlimmes getan, aber sie macht mich für alles verantwortlich.«
»Ach, meine Liebe«, sagt er. »Das klingt ja, als hättest du eine schwere Zeit hinter dir.«
»Kann ich noch so eines haben?« Sie nickt in Richtung der Bonbontüte.
Das ist meine Monatsration. Wie dreist die ist. Sagt nicht einmal bitte.
»Okay«, antwortet er widerwillig, zögernd. Er hält ihr wieder die Tüte hin, sieht, dass seine kostbare Zuckerration in diesem gierigen Maul verschwindet.
»Ich sag dir was. Ich war gerade im Begriff, mir eine schöne Tasse Tee zu machen. Hättest du nicht auch gern eine, was?«
»Ist egal«, antwortet Lily.
»Das verstehe ich jetzt mal als ja«, erklärt er. »Ich sag dir was. Warte hier, dann bringe ich ihn heraus. Es ist ein so schöner Tag. Wir können ja genauso gut die Sonne genießen.«
»Blabla«, sagt sie.
Arthur Boden geht den Bahnsteig entlang auf den Bahnhof zu. Er mag es nicht, wenn er sich einmischen muss. Aber was soll er anderes tun? Die hassen das, ausnahmslos, diese armen Dinger, wenn sie von ihren Familien getrennt und an einen fremden Ort mit fremden Leuten und ihren fremden Gewohnheiten verfrachtet werden. Er hatte selbst so ein Mädchen aufgenommen, das geschrien hat, als es zum ersten Mal eine Kuh sah. Sicher hat die nie von Kühen gehört und bestimmt nicht gewusst, dass die Milch von ihnen kommt. Aber man kann doch nicht zulassen, dass sie aufs Geratewohl auf den Geleisen herumspazieren. Die könnten ja an jeden geraten. Heutzutage scheinen sich viele zweifelhafte Typen in der Gegend herumzutreiben. Und selbst wenn sie es bis nach Hause schaffen sollten, ist längst nicht garantiert, dass ihr Zuhause überhaupt noch da ist.
Der Raum hinter dem Fahrkartenschalter ist von der Nachmittagshitze muffig und stickig. Er nimmt seine spitze Kappe ab und legt sie auf den Schreibtisch neben die Fahrpläne. Füllt den Wasserkessel und stellt ihn auf die Einzelplatte, die die Eisenbahngesellschaft als einzige Kochstelle für ihre Angestellten, die rund um die Uhr Schichtdienst haben, bereitgestellt hat. Er lässt sich schwerfällig auf den Stuhl plumpsen und greift zum Telefon. Dreht die Wahlscheibe und wartet, dass sich die Vermittlung meldet.
»Ach, Bella, meine Liebe«, sagt er. »Arthur Boden vom Bahnhof Bodmin Road. Könntest du herausfinden, wer für die auf Meneglos verteilten Evakuierten zuständig ist? Ich hab hier wieder eine. Versucht, nach Portsmouth zu kommen.«
Er hört zu, kichert.
»Ich weiß«, sagt er. »Ich glaube, daran ist das Wetter schuld. Das ist schon das dritte Mal diese Woche.«
33
Der Fernseher ist seit fast einem Jahr kaputt. Die einzige Möglichkeit, ihn ein- und auszuschalten, besteht darin, dahinterzukriechen und den Stecker aus der Wand zu ziehen. Aber heute Abend, als sie nach dem Einstecken auf allen vieren wieder dahinter hervorkam, passierte gar nichts. Sie versuchte es mit dem Stecker des Wasserkochers, aber das brachte auch nichts: kein Bild, kein Ton, und das rote Licht vorne, das anzeigt, dass das Gerät eingeschaltet ist, bleibt hartnäckig dunkel. Sie hat es mit allen Tricks probiert, die normalerweise bei empfindlichen technischen Geräten Wirkung zeigen: fest obendrauf schlagen; das Gerät nach vorn kippen und vor und zurück schaukeln; es anbrüllen. Aber nichts ist passiert. Der Apparat ist kaputt.
Er steht auf dem Stuhl in der Ecke, lacht sie aus und erinnert sie daran, dass alles, was sie besitzt, auf die eine oder andere Weise aus dem letzten Loch pfeift. In einer Welt, in der die beabsichtigte schnelle Alterung den Schlüssel des Wirtschaftswachstums darstellt, kann man solche Geräte nur vorübergehend und notdürftig reparieren. Alle ihre Sachen, die Ausrüstung eines modernen Erwachsenenlebens, müssen nach und nach ersetzt werden, sobald sich ihre finanzielle Lage stabilisiert hat. Das ist eine der traurigen, niederschmetternden Begleiterscheinungen der Armut: Sobald man eine Weile arm ist, wird die Distanz zwischen dir und dem, was andere Menschen als zivilisiertes Leben bezeichnen würden, immer größer.
Egal, denkt sie. Ich habe in Bodmin einen Laden gesehen, der gebrauchte Fernseher anbietet, und zwar in einer dieser Discounter-Straßen, wo es drei Stück zum Preis von zweien, alles für ein Pfund gibt, und in die sich die
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