Das Haus der verlorenen Kinder
Touristen nie verirren. Ich werde einen kaufen – nur einen kleinen, das braucht nichts Großartiges zu sein –, sobald der Lohn für den nächsten Monat eingeht, und der wird uns über die Runden bringen, bis sich die Lage bessert. Und in der Zwischenzeit werde ich diese fantastische Anlage unten im Salon benutzen. Wäre ja dumm, es nicht zu tun. Die anderen nutzen sie doch auch alle, oder etwa nicht? Ich kann nicht jeden Abend hier allein herumsitzen, ohne etwas, was mir Gesellschaft leistet. Ich gehöre nicht zu den Frauen, die sich fürs Sticken begeistern.
Als sie hinuntergeht, das Babyfon und die Ausgabe des Mirror unter den Arm geklemmt, einen Becher Tee in der Hand, eine Decke über der Schulter, wirft sie einen Blick aus dem Fenster und sieht, dass es angefangen hat zu schneien. Weiße Wirbel kreiseln vor der Fensterscheibe, angestrahlt vom Sicherheitslicht, das seit dem Stromausfall jetzt immer die ganze Nacht angeschaltet bleibt. Sie hält im Speisezimmer an und steigt auf den Fenstersitz, stützt sich mit den Ellenbogen auf die Fensterbank und drückt Nase und Stirn gegen das kalte Glas. Ich hoffe, er bleibt liegen, denkt sie. Yasmin hat noch nie richtig Schnee auf der Erde liegen sehen, nur in Bildern. Es heißt, dass hier in der Gegend nur selten Schnee liegen bleibt, aber schließlich sind wir auf einer Insel am Rande des nördlichen Polarkreises. Irgendwann muss es ja passieren.
Sie kommt sich wie eine Diebin vor. Fühlt sich eigenartig schuldig, obwohl ihr nie gesagt wurde, dass sie das Haus nicht nutzen darf. Die Geräte sind schließlich da, stehen ungenutzt herum, und es ist ja nicht so, als würde sie hier eine wilde Party feiern oder so. Keiner kann es ihr verübeln, wenn sie einen Abend vor dem Fernseher sitzt, wo ihrer doch kaputt ist. Und dennoch – sie kommt sich wie ein Eindringling vor. Befürchtet, dass Tom Gordhavo es irgendwie erfahren wird. Und achtet darauf, einen Untersetzer unter den Becher zu legen, als würde er zwischen Flecken einer Angestellten und jenen, die die Gäste hinterlassen haben, unterscheiden können.
Das große Sofa ist bequemer, als sie erwartet hatte. Mit seinem Lederbezug und den Kelimkissen sieht es hart und nüchtern aus, aber es fühlt sich, als sie sich darauf ausstreckt, wie ein äußerst stabiles und angenehmes Bett an. Es ist kalt hier drin – sie fühlt sich nicht berechtigt, die Heizung über der Frostwächter-Stufe einzustellen, wenn keine Mieter da sind, weil ein Haus dieser Größe ja ordentlich Heizöl verschlingt –, und sie ist froh über ihre Decke. Sie faltet sie einmal zusammen, zieht sie über sich, legt den Kopf auf ein Kissen, und nur der Kopf und die Hand, die die Fernbedienung hält, schauen noch heraus. Sie schaltet das Gerät ein und zappt die Kanäle durch.
Er hat tatsächlich einen unglaublich tollen Satellitenempfang. Sie verspürt einen Anflug von Groll. Er bezahlt dafür und wirbt damit sicherlich als eine der Attraktionen des Hauses, aber natürlich gibt es in ihrer Wohnung keinen Anschluss. Leute wie ich, denkt sie, kriegen nur fünf Programme. Nicht einmal die kostenfreien Sender funktionieren hier ohne richtige Antenne. Und dabei gibt es hier unten Unmengen von Kanälen für die Unterhaltung von Leuten, die hier Urlaub machen und sie wahrscheinlich am allerwenigsten brauchen.
Auf QVC wird Diamantschmuck angepriesen. Auf BBC4 läuft eine Dokumentation über Sam Johnson. Bei BBC3 kommt Four Pints of Lager and a Packet of Crisps. UKTV bringt Are You Being Served. Im History Channel läuft etwas über die Nazis. Auf ITV3 zeigen sie wieder einmal Police Academy 4: Citizens on Patrol. Sky One bringt eine Theaterserie, bei der sämtliche Schauspieler unbekleidet sind. E4 zeigt ein Friends- Special. Auf FilmFour läuft etwas in Tschechisch.
Okay, denkt sie. Vierzig Kanäle und trotzdem alles Mist.
Sie versucht es mit den Kino-Kanälen. Herr der Ringe. Toll. Wenn ich in Realzeit sehen wollte, wie es ist, einen Berg zu erklimmen, dann würde ich hingehen und ihn selbst besteigen. Kirsten Dunst, süffisant grinsend. Sie wartet nicht einmal ab, um zu sehen, um welchen Film es sich handelt. 28 Days Later. Zombies, deren Gesichter in Auflösung begriffen sind, rennen herum und brüllen in die Kamera. Früher hat sie Zombie-Filme gemocht. Hat immer den heimlichen Wunsch gehegt, einmal als Gaststar in einem Film von Romero mitzuwirken. Herumzusitzen und Schinkensandwiches zu essen, während ihr der halbe Kopf abfällt.
Ja,
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