Das Haus der verlorenen Kinder
Augen und stöhnt auf. »Ich hab es dir schon gesagt«, antwortet sie, »das geht dich gar nichts an.«
»Nun, kein Grund unhöflich zu sein«, sagt er wieder. »Ich hätte sehr wohl das Recht, dich von diesem Bahnhof zu verweisen, wenn mir danach wäre.«
»Wie schön für dich. Dann bist du ja der Allmächtige.«
Arthur setzt sich neben sie auf die Bank. Hinter der Fassade seines pompösen offiziellen Auftretens ist er eigentlich ein freundlicher Mann. Er mag es nicht, wenn er sieht, dass Kinder allein unterwegs sind. Das kommt ihm nicht richtig vor. Er kramt in seiner Tasche und findet das letzte der acht Tütchen mit Pfefferminzbonbons, die er Anfang der Woche als Ration erhalten hat. Er steckt sich ein Bonbon in den Mund und hält ihr die verknitterte Tüte hin.
Sie blickt ihn argwöhnisch an.
»Mach schon, nimm dir eins«, sagt er. »Die sind nicht vergiftet.«
Sie starrt die Bonbons an, schaut zu ihm hinauf, dann wieder auf die Tüte.
»Ich biete sie dir nicht ewig an«, sagt er.
Sie schnappt sich ein Bonbon, stopft es sich in den Mund, als habe sie Angst, er könnte es sich anders überlegen. Sitzt da, und das Bonbon beult ihre Wange aus, als wäre es ein großer Dauerlutscher, und sie lutscht und lutscht.
»Was sagt man?«, fragt er.
»Eigentlich dürftest du Kindern keine Süßigkeiten schenken«, antwortet sie.
»Und du dürftest sie eigentlich nicht annehmen«, erinnert er sie.
Sie zuckt mit den Achseln. »Na ja«, sagt sie. »Danke.«
»Gern geschehen«, antwortet er. »Bist wohl evakuiert worden, oder?«
Wieder zuckt sie mit den Achseln. »Werde aber nicht evakuiert bleiben.«
»Dann fährst du nach London zurück?«
»Sei nicht albern«, empört sie sich. »Portsmouth.«
»Ach, richtig«, sagt er.
»Meine Mum ist dort.«
»Ach, richtig«, wiederholt er.
Sie sitzen da und lutschen, und sie lässt die Beine im Sonnenschein baumeln.
»Du vermisst sie, nicht wahr?«, fragt er.
Wieder zuckt sie mit den Achseln. Schiebt das Bonbon im Mund auf die andere Seite. »Kenn mich damit nicht aus, aber das hier hasse ich, verdammt.«
»Oh«, sagt er und ignoriert ihr Fluchen, obwohl seine eigenen Kinder dafür zehn Minuten in der Ecke stehen müssten. »Tut mir leid, das zu hören. Du hast denen aber gesagt, dass du heimfährst, oder?«
»Natürlich nicht. Seit Dienstag hat ohnehin keiner mehr mit mir geredet. Für die bin ich Luft.«
Fünf Tage, überlegt er. Das ist eine ziemlich lange Zeit für ein Kind.
»Was, keiner hat mit dir geredet?«
»Keiner. Die Schweine. Das sind alles Snobs.«
»Vermutlich«, sagt er. Er stellt sich eine altmodische kornische Familie vor, die plötzlich dieses unverschämte Gör aufnehmen muss. Wahrscheinlich sind sie darüber nicht allzu begeistert. Aber fünf Tage … »Wo warst du denn?«
»In Meneglos.«
»Das ist ein ganzes Stück weg. Was hast du gemacht? Bist du bis hierher gelaufen?«
»Sei nicht albern«, sagt sie. Grinst spöttisch. »Die sind nach Bodmin ins Kino gefahren. Erst als wir dort angekommen sind, hat es plötzlich geheißen, Lily, du kommst nicht mit uns, weil man mir offenbar nicht trauen kann, deshalb sagt sie, ich muss im Auto sitzen bleiben und darf die zwei Stunden nichts anrühren, während sie da drin sind und sich Pimpernel Smith anschauen, und da dachte ich mir, da mache ich mich doch lieber gleich vom Acker.«
»Das kann man dir wohl kaum verübeln. Aber meinst du nicht, dass sie sich inzwischen Sorgen machen?«
Sie ist bis zu dem weichen, pulvrigen Inneren des Bonbons vorgedrungen und konzentriert sich eine oder zwei Sekunden darauf, bevor sie antwortet: »Natürlich nicht. Die sind eher froh, dass sie mich los sind.«
»Na ja«, sagt er. »Du weißt es wohl am besten, würde ich meinen.«
»Das hat sie mir oft genug gesagt«, erzählt Lily.
»Hat sie das? Und wer ist ›sie‹? Wen meinst du damit?«
»Diese verdammte Mrs Blakemore«, antwortet sie. »Die beschissene Hexe Blakemore, so nenne ich sie.«
»Wirklich?«, fragt er. Der Name kommt ihm bekannt vor. Eines der großen Anwesen unweit von Wadebridge.
»Sie ist ein echter Snob«, stellt Lily fest.
Da liegt sie wahrscheinlich gar nicht falsch, denkt er. Trotzdem, was soll ich machen? Diese Leute tragen die volle Verantwortung für die Kinder. Wahrscheinlich ist sie schon ganz krank vor Sorge.
»Es gefällt dir dort also nicht?«
»Ich möchte zu meiner Mum«, antwortet sie entschieden. »Meine Mum hat mich wenigstens nicht in so beschissene Schränke
Weitere Kostenlose Bücher