Das Haus der verlorenen Kinder
Stadtmensch.«
»Wo hat sie denn solche Sachen her?«, fragt Carol.
»Aus der Schule. Ich musste ihr am zweiten Tag blaue Kordhosen und einen Pullover kaufen, weil die anderen sie so bezeichnet haben. Und einen Anorak. Ein Stadtmensch zu sein, ist hier in etwa das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Schlimmer ist nur, wenn man einer der Conran Yuppies drunten in Rock ist.«
»Wie komisch«, stellt Carol fest. »Das ist wie bei Trainer Wars, nur umgekehrt.«
»Ich weiß«, sagt Bridget. »Daran ist das Fernsehen schuld, davon bin ich überzeugt. Hier schauen Kinder nicht halb so viel, weil die Leute keine Angst haben, sie draußen spielen zu lassen, und sie sind in der Folge auch lange nicht so materialistisch eingestellt. Hast du gewusst, dass hier kein einziges Kind einen iPod hat?«
»Was ist ein iPod?«, will Yasmin wissen.
»Hässliche weiße Plastikdinger, Darling«, antwortet Carol, »die deine Schallplatten fressen und dazu führen, dass dich die Leute berauben möchten.«
»Warum soll ich dann einen davon haben wollen?« – »Ich will keinen.« – »Ich enthalte mich«, sagt Bridget.
»Mummy, ich gehe da übrigens auch nicht rauf«, stellt Yasmin fest.
»Ach, ehrlich«, entrüstet sich Bridget. »Was seid ihr beide bloß für Waschlappen.« Sie wird es nicht zugeben, aber sie ist beinahe erleichtert, dass die anderen sich an ihrer Stelle als Feiglinge geoutet haben. Aus diesem Blickwinkel wirkt Tintagel, jetzt, da der Regen über die Landenge peitscht, weit entfernt und ziemlich hoch gelegen. Dramatisch, aufregend und romantisch, wie die Wellen gegen den Fuß des schwarzen und zerklüfteten Cliffs schlagen, aber bei diesem ungemütlichen Wetter noch ein ganzes Stück entfernt.
»Ich dachte, Cornwall gelte als sonnig«, stellt Carol fest.
»Hier unten ist noch immer Winter«, antwortet Bridget. »Das ist hier nicht die Toskana.«
Carol klopft sich mit ihren in Lederhandschuhen steckenden Händen gegen die Oberarme und stampft auf dem regennassen Granit herum.
»Wir sind die ganze Strecke hierher gefahren …«, sagt Bridget skeptisch, obwohl sie weiß, dass sie ein wenig mehr Begeisterung an den Tag legen muss, wenn sie eine unwillige Sechsjährige bewegen will, im strömenden Regen mehrere hundert Meter den Berg hinaufzuwandern. Sie kann zwei in Regencapes gehüllte Gestalten ausmachen, die sich in dem verfallenen Tor am Rande des Cliffs aneinanderdrängen und nach unten blicken. Eine Böe erfasst sie, und Bridget beobachtet, wie sie sich an den Fels klammern und ihre Capes wie Wimpel zur Seite geblasen werden.
»Das reicht mir«, sagt Carol resolut. »Wie wäre es mit einer schönen Tasse Tee, während wir auf den Shuttle Land Rover warten?«
»Ja«, antwortet Yasmin entschieden und macht sich daran, in Richtung des Cafés davonzuhüpfen. »Pommes frites!«, ruft sie.
Die Erwachsenen folgen ihr in gemächlicherem Tempo, Carol hakt sich bei Bridget unter und humpelt den unebenen Weg entlang.
»Du bist wirklich ein Stadtmensch.«
»Tja«, antwortet Carol, »hätte Gott gewollt, dass wir in Mokkassins herumlaufen, dann hätte er uns nicht das Pflaster erfinden lassen. Wie auch immer. Man weiß ja nie, ob einem nicht ein netter Bauernbursche über den Weg läuft.«
»Nun, er wird sicher nicht wollen, dass du so aussiehst«, sagt Bridget. »Die Bauernburschen hier wollen eine Frau, die gut mit einem Schraubenschlüssel umgehen kann, keine Vorzeigefrau.«
»Wer redet hier von Ehefrauen?«, fragt Carol. »Ich bin nur auf Urlaub hier.«
»Am ersten Samstag jeden Monats gibt es eine Dorfdisko, aber ich denke, die könnten für dich ein bisschen jung sein.«
»Na, besten Dank.«
»Falls du nach einem Ehemann Ausschau hältst.«
»Richtig.«
Beide brechen in Gelächter aus.
»Unten in Newquay gibt es ein paar nette Surfer, falls du das Erbrochene auf den Straßen erträgst«, fährt Bridget fort, »aber im Moment ist es für sie noch ein bisschen kalt. Die sind wahrscheinlich dem Sommer nachgereist und tummeln sich jetzt irgendwo in Australien.«
»Ach, ein Surfer. Wenn du schon davon redest. Einer dieser schönen Körper von Langstreckenschwimmern täte es auch.«
Bridget schmunzelt.
»Und, wie machst du dich eigentlich an dieser Front?«, erkundigt sich Carol.
Sie fühlt sich ein bisschen verärgert. »Lass mir eine Chance. Ich bin erst gut einen Monat hier. Und außerdem glaube ich kaum, dass ich mich so bald auf diesem Markt tummeln werde.«
»Ach, Bridget«, entgegnet Carol,
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