Das Haus des Buecherdiebs
Nähe. Schon William Blake hatte in seinem Gedicht »Ewig keit « richtig bemerkt:
Wer eine Freude an sich bindet,
Der zerstört beschwingtes Leben,
Doch wer im Flug sie küsst und findet,
Lebt vom ew’gen Licht umgeben.
Das gilt wohl für jede Art der Liebe, auch für die Bücherliebe. Wird sie zum neurotischen Zwang und zur Besessenheit, zur egoistischen Raffgier, wartet am Ende nur der Kummer um die unausweichliche Vergänglichkeit aller Dinge. Trost und Glück gibt es nur im flüchtigen Augenblick. Eifersucht, Neid und Missgunst haben hingegen noch nie zu etwas Gutem geführt, ebensowenig wie Ausgrenzung und Bevormundung: Der Umgang |154| mit Büchern sollte also vollkommen zwanglos sein. Ein jeder soll sich an dem erfreuen, was er schätzt und liebt, sei es nun trivial oder anspruchsvoll, und niemand soll denken, dass ein Buch wertlos ist, nur weil ein anderer es kritisiert.
Jeder Leser hat das Recht, sich seinen eigenen Weg durch die Bücherlabyrinthe zu bahnen – jenseits der vorgegebenen Ordnungen und Kanonisierungen. Der Londoner Essayist Charles Lamb ordnete seine Bücher beispielsweise lediglich in solche, die er las, und solche, die er nicht las: biblia und biblia a-biblia. Mit Letzterem bezeichnete er all jene Bücher, die ihm unlesbar erschienen: Kalender, Gebrauchsanweisungen, Gesetzestexte, Almanache, wissenschaftliche Abhandlungen, Schachbretter, die man zusammenklappen und wie ein Buch aufschlagen kann – außerdem die Werke des Philosophen David Hume und des Historikers Edward Gibbon sowie anderer Autoren, die Lamb aus unerfindlichen Gründen verschmähte.
Zu einer freien, großherzigen Bücherliebe, die auf einem gesunden Maß an Neugier und Leselust beruht, inspiriert auch eine Geschichte über den englischen Gelehrten Samuel Johnson. Denn der Autor des maßgeblichen englischen Wörterbuchs ließ sich bei der Auswahl seiner Lektüre seit früher Kindheit gern vom Zufall leiten: Im Glauben, der Bruder habe ein paar Äpfel hinter einem dicken Folianten oben auf einem Gestell der väterlichen Buchhandlung versteckt, kletterte er die Leiter hinauf, um danach zu suchen. Äpfel kamen keine zum Vorschein, wohl aber stellte sich der Foliant als ein Werk |155| Petrarcas heraus, dem der kleine Samuel irgendwo in einem Vorwort bereits als Wiedererwecker der Gelehrsamkeit begegnet war. Neugierig, was es damit auf sich habe, setzte er sich hin und begann zu lesen. Auf diese zerstreute Art lernte er auch eine Vielzahl anderer Werke kennen, die man an Schulen und Universitäten kaum je zu Gesicht bekam.
Das ist vielleicht die einzig richtige Art, mit der Unmenge von Texten umzugehen, die wir seit Anbeginn der schriftlichen Überlieferung angehäuft haben: das in Goethes »Faust« erwähnte Springen von »Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt«. Und wenn wir in den Bibliotheken unseres Geistes schon nicht ohne Ordnung auskommen, dann sollte diese Ordnung unseren persönlichen Vorlieben entsprechen und nicht irgendeinem vergänglichen Kanon oder den berechnenden Maßstäben der Ideologen.
Für jene, die dennoch Orientierung brauchen, gibt es drei nützliche Ratschläge von Ralph Waldo Emerson, von denen der dritte zweifellos der entscheidende ist:
Lies keine Bücher, die nicht mindestens ein Jahr alt sind.
Lies nur berühmte Bücher.
Lies nur Bücher, die dir gefallen.
Oscar Wilde hatte eine ganz ähnliche Auffassung. Er teilte den Lesestoff ebenfalls schlicht in drei unverbindliche Kategorien ein: Bücher, die man lesen sollte – wie Ciceros Briefe, Sueton, Vasaris Künstlerbiographien, Benvenuto Cellinis Autobiographie, die Reiseberichte von Sir John Mandeville und Marco Polo, Saint-Simons |156| Memoiren, Theodor Mommsens »Römische Geschichte« und Grotes Geschichte Griechenlands –, Bücher, die man zweimal lesen sollte – wie Platon und Keats, im Bereich der Poesie die Meister, im Bereich der Philosophie die Seher –, und drittens Bücher, die man nicht lesen sollte, wie sämtliche Kirchenväter außer Augustinus, alle Streitschriften sowie alle Bücher, die irgendetwas beweisen wollen. »Die dritte Kategorie ist die wichtigste«, schrieb Wilde. »Den Leuten zu sagen, was sie lesen sollen, ist in der Regel nutzlos oder gar schädlich; denn die Wertschätzung der Literatur ist eine Frage des Temperaments, nicht der Unterweisung.«
Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, dass der phantasievolle, individuelle und freizügige Umgang mit Büchern und Literatur ebenso gut neue Spielarten der
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