Das Haus des Buecherdiebs
jedoch, dass der Besitz stets gemeinsames Eigentum bleiben und nicht veräußert oder privat genutzt werden solle. Das Testament nennt allerdings ausdrücklich Neleus, der ebenfalls zu den zehn Gefährten gezählt wird, als Erben aller Bücher. Auch Strabon bezeichnet Neleus als offiziellen Besitzer der kostbaren Büchersammlung, der Bibliothek des Aristoteles, erweitert um die Werke und Sammlungen des Theophrast. Warum ausgerechnet Neleus, ein eher unbedeutender Schüler, der keine eigenständigen Werke hervorgebracht hatte, auf diese Weise bevorzugt wurde, ist unklar. Vielleicht hielt ihn Theophrast für fähig, die aristotelischen Traditionen zu wahren und den zunehmenden Zwistigkeiten innerhalb der Schule entgegenzuwirken. Doch seine Gefährten wählten nicht ihn, sondern Straton zu ihrem neuen Scholarchen. Neleus, der sich nach seiner ungewöhnlichen Erbschaft wohl große Hoffnungen gemacht hatte, dieses Amt übernehmen zu können, packte beleidigt die Koffer und verschwand aus Athen.
Strabon und Plutarch berichten übereinstimmend, Neleus habe sich in seinen Heimatort Skepsis in der Troas zurückgezogen, all die unersetzlichen Bücher mitgenommen |161| und sie schließlich an seine ungebildeten Nachkommen vererbt. Diese hätten die Schriftrollen in einer Höhle oder einem Keller versteckt – aus Furcht vor den Schergen der pergamenischen Könige, die überall nach seltenen Manuskripten für ihre große Bibliothek suchen ließen. Jahrzehnte später entdeckte Apellikon von Teos die geheime Höhle »auf wundersame Weise«. Bestimmt nicht aus reinem Zufall, denn er war ein bekannter und betuchter Sammler von Aristotelica und verkehrte im Umfeld des Peripatos. Dort hatte er vermutlich von den Ereignissen nach Theophrasts Tod gehört und ganz bewusst nach Neleus’ Erben gefahndet. Er reiste schließlich persönlich nach Skepsis, um zu prüfen, was aus all den Kostbarkeiten geworden war, kaufte den rechtmäßigen Eigentümern, die wohl erleichtert waren, den alten Plunder endlich los zu sein, die von Motten und Würmern zerfressenen Papiere ab und brachte sie zurück nach Athen.
Obwohl es eher unwahrscheinlich ist, dass Neleus die gesamte Bibliothek des Aristoteles in seine Heimat verschleppt hatte, nur um seinen »Freunden« eins auszuwischen, kann man sich gut vorstellen, wie ein glückseliger Apellikon mit zitternden Händen seine Neuerwerbungen auspackte, behutsam die wertvollen Pergamente entrollte und unter Freudentränen die Handschrift des bedeutendsten Philosophen seiner Zeit erkannte. Wahrscheinlich vergoss er auch ein paar Tränen des Kummers über den bedenklichen Zustand der Manuskripte und die provinzielle Ignoranz ihrer Vorbesitzer. Beim Anblick der durchlöcherten und vermoderten Blätter fasste |162| er einen mutigen Entschluss: Er wollte die unvergleichlichen Texte neu herausgeben, die Lücken und unlesbaren Stellen durch eigene wohlerwogene Worte schließen. Es war keine schlechte Idee, doch Apellikon hatte weder das Wissen noch den Verstand für eine so anspruchsvolle Aufgabe. Er war, wie Strabon trocken anmerkte, eben »eher Bücherfreund als Philosoph«. Und so endete sein hingebungsvoller Eifer mit der Edition einer vollkommen unzuverlässigen, verfälschten und fehlerhaften Aristoteles-Ausgabe, von der keine Zeile der Nachwelt erhalten blieb.
Möglicherweise war der Bibliomane auch völlig mit der Reputation zufrieden, die ihm der Besitz unbekannter aristotelischer Schriften verschaffte. Tatsächlich drang die Kunde von der kostbaren Sammlung bis nach Rom, wo ein anderer Bücherfreund gierig die Ohren spitzte. Im Jahr 86 v. Chr. wurde Athen durch die Truppen des römischen Feldherrn Sulla besetzt, und dieser nutzte die Gunst der Stunde und erkundigte sich nach der berühmten Bibliothek Apellikons. Er besuchte sie nicht, um ein paar Dubletten zu tauschen – er beschlagnahmte sämtliche Schriftrollen und schickte sie nach Rom, in sein privates Domizil, wo eigens ein Bibliothekar angestellt wurde, um die geraubten Schätze zu pflegen.
Nach Sullas Tod ging die Sammlung an seinen Sohn Faustus Sulla. Dieser machte sich nicht viel daraus, hinderte aber auch niemanden daran, die Texte einzusehen. Vermutlich war Cicero, ein Kenner der aristotelischen Werke, häufig zu Gast. Wichtiger für die Überlieferung |163| der Texte war jedoch ein gewisser Tyrannio von Amisos, der als Gefangener nach Rom gelangt war und nach seiner Freilassung als Lehrer arbeitete. Er war wohl neben Cicero der Einzige, der
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