Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
»Manchmal kann ich ihn hören, wenn er schnaubt und brüllt. Wenn er näher kommt. Er hat meine Witterung aufgenommen.«
    »Wen meinen Sie mit Stier?« Nicht für einen Augenblick zog Jupiter in Erwägung, daß Santino von einem echten Tier sprechen könnte. Er dachte an den italienischen Spitznamen der Mafia, la piovra, der Krake. Möglich, daß Santino vor etwas Ähnlichem davonlief.
    Aber der Mann schüttelte nur unmerklich den Kopf und gab keine Antwort.
    »Okay.« Jupiter seufzte. »Versuchen wir’s noch einmal. Können Sie mir sagen, wo ich Cristoforo finden kann?«
    »Er ist nicht hier.«
    »Das sagten Sie schon.«
    »Ich hab ihn nicht gesehen.«
    »Wie lange sind Sie schon hier im Haus?«
    »Seit heute nacht. Cristoforo war nicht hier.«
    »Kommen viele Obdachlose her? Ich meine, ist das hier eine stadtbekannte Unterkunft oder so was in der Art?«
    Santino schaute ihn irritiert an. »Ich bin kein Obdachloser … ich meine, ich war keiner, bis vor …« Er führte den Satz nicht zu Ende. Statt dessen sagte er nach einer kurzen Pause: »Ich kann Ihnen nicht helfen. Lassen Sie mich gehen.«
    »Wer verfolgt Sie?«
    »Niemand.«
    »Und der Stier?«
    Santinos gehetzter Blick geisterte hinüber zum Treppenhaus, so als erwarte er, jeden Augenblick könne dort jemand erscheinen und sich auf ihn stürzen. »Er ist verstummt. Im Augenblick … ist er still.«
    »Wissen Sie, wo ich Cristoforo sonst noch treffen könnte?«
    »Es war ein Fehler, hierherzukommen«, sagte Santino.
    Jupiter nahm an, das bezöge sich auf ihn, auf Jupiter, doch dann begriff er, daß Santino viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, als daß er sich um einen anderen hätte Sorgen machen können.
    »Ich habe den Stier hierhergeführt«, sagte Santino, »zu Cristoforo. Das war unverantwortlich.« Er schaute Jupiter geradewegs in die Augen. »Ich möchte jetzt gehen, bitte. Ich habe … zu tun.«
    Jupiter warf einen Blick auf die ausgebeulte Reisetasche und fragte sich allmählich doch, was Santino darin herumtrug. Aber er hatte versprochen, sich nicht darum zu kümmern, und so beließ er es dabei.
    »Woher kennen Sie Cristoforo?« fragte er statt dessen.
    »Werden Sie mich gehen lassen, wenn ich Ihre Frage beantworte?«
    Jupiter kam sich abscheulich vor. Fast tat es ihm leid, Santino bei seiner Flucht die Treppe hinauf aufgehalten zu haben. Aber es stand zuviel auf dem Spiel.
    »Sie können auch sofort gehen, wenn Sie wollen«, sagte er. »Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie meine Fragen trotzdem beantworten würden.«
    Sein versöhnlicher Tonfall schien Santino zu verwirren. Der Mann musterte ihn erneut, und zum ersten Mal hatte Jupiter das Gefühl, daß Santino etwas anderes als einen Feind in ihm sah, einen Menschen, der ihm nicht zwangsläufig etwas Böses wollte.
    »Sie haben gefragt, woher ich Cristoforo kenne. Ich habe ihn gepflegt. Damals, als er krank war, als sie ihn fast in den Wahnsinn getrieben haben.«
    »Wen meinen Sie mit › sie ‹ ?«
    »Ich bin Mönch … Kapuziner. Es fällt mir schwer, schlecht über die Mutter Kirche zu sprechen.«
    »Die Kirche hat versucht, Cristoforo in den Wahnsinn zu treiben?«
    »Er hat als Restaurator für den Vatikan gearbeitet«, sagte Santino.
    »Es hieß, er sei geisteskrank, und man brachte ihn zu uns ins Kloster, damit wir ihn pflegten. Das ist unsere Aufgabe, wissen Sie? Wir Kapuziner helfen anderen Menschen, wir versorgen sie, wenn sie krank sind und …«
    Jupiter unterbrach ihn mit sanftem Nachdruck. »Warum ist Cristoforo dann nicht mehr in Ihrer Obhut?«
    Der Mönch überlegte einige Sekunden, bevor er antwortete. »Er wollte gehen, und da ließen wir ihn ziehen. Wir sperren niemanden ein.«
    »Und warum sind Sie hier?«
    Wieder vergingen einige Augenblicke. »Ich habe den Orden verlassen«, erklärte Santino schließlich. »Ich war auf der Suche nach einer Bleibe.« Sein Blick irrte hektisch zu der Tasche in seiner Hand, dann schaute er wieder zu Jupiter auf. »Ich wußte, daß Cristoforo hier wohnt, und ich kam her, um zu übernachten. Das … ist alles.«
    »Haben Sie die beiden Männer gesehen, die vorhin hier waren?«
    »Nur durchs Fenster. Ich hab mich hier oben hinter der Tür versteckt. Einer von ihnen ist raufgekommen, aber er hat mich nicht bemerkt.« Er lächelte freudlos. »Die Tür ist für jeden zu sehen und doch versteckt, wie in einem Bilderrätsel. Cristoforo hatte immer schon ein Faible für Geheimnisse.« »Wie meinen Sie das?«
    »Fragen Sie ihn danach, nicht

Weitere Kostenlose Bücher