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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Mann um den Hals trug -Mönche trugen solche Kreuze, vor allem jene der besitzlosen Orden. Jeder andere, der Wert auf so ein Schmuckstück legte, hätte eines aus Silber oder Gold oder irgendeinem billigen Metallimitat getragen.
    Noch auffälliger aber war der Blick des Mannes gewesen, den Jupiter im Vorbeilaufen aufgeschnappt hatte. Ein Blick voller Todesangst, so gehetzt und verzweifelt, daß Jupiter einen Augenblick lang überlegte, ob es nicht besser sei, den Mann einfach sich selbst und seinen Problemen zu überlassen. Aber etwas sagte ihm, daß diese Angst sehr wohl mit den Dingen zu tun haben mochte, die ihn selbst beschäftigten. Wenn er gründlich vorgehen wollte, blieb ihm gar keine andere Wahl, als mit dem Mann zu sprechen. Vielleicht wußte er etwas über Cristoforo, das nützlich für sie war.
    Der Mann war schnell, aber die schwere Reisetasche behinderte ihn. Jupiter holte ihn ein, bevor er die Klappe öffnen und aufs Dach klettern konnte.
    »Bitte, warten Sie«, forderte er den Fliehenden noch einmal auf.
    Als er nicht reagierte, packte Jupiter den Griff der Reisetasche und riß den Mann daran zurück. Er hatte ganz bewußt nicht nach seinem Arm oder Bein gegriffen … das schien ihm zu persönlich, zu intim, zu verletzend. Die Tasche erwies sich als die richtige Wahl; der Mann zerrte an ihr, als hinge sein Leben davon ab.
    »Hören Sie, ich will Ihnen nichts tun«, begann Jupiter, bis ihn die knochige Faust des Mannes an der Wange traf. Mit einem überraschten Aufschrei taumelte Jupiter zwei Stufen zurück und hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren. Im letzten Moment packte er das Messinggeländer und hielt sich daran fest.
    Der Mann stieß die Dachluke auf. Durch das Quadrat schimmerte graublauer Dunst. Kühle Luft wehte herein und trug den schlechten Geruch des Flüchtlings an Jupiters Nase. Er roch ungewaschen, nach tagealtem Angstschweiß.
    Jupiter bekam den Mann erneut zu fassen, noch bevor dieser hinausklettern konnte. Diesmal war er weniger zimperlich. Er hielt ihn am Knöchel fest und zog ihn mit einem kraftvollen Ruck nach unten. Die Reisetasche entglitt den Händen des Mannes und knallte mit einem metallischen Scheppern auf die Stufen. Der Mann brüllte einen Fluch in lateinischer Sprache, dann holte er erneut aus, um nach seinem Verfolger zu schlagen. Doch Jupiter war gewarnt, wich aus, wirbelte den Mann herum und drehte ihm den linken Arm auf den Rücken. Er konnte sich nicht erinnern, wann er einen solchen Griff zuletzt angewandt hatte. Seine letzte Schlägerei lag weit zurück, in seiner Schulzeit … abgesehen von dem erniedrigenden Fiasko in Barcelona.
    Der Mann schrie erneut, doch statt mit dem freien Arm nach Jupiter zu greifen, packte er die Reisetasche und zog sie dicht an seinen Körper.
    »Glauben Sie mir«, keuchte Jupiter atemlos, »ich will Ihnen nichts tun! Ich bin ein Bekannter von Cristoforo. Ich bin auf der Suche nach ihm.«
    Die Augen des Mannes waren weit aufgerissen und blutunterlaufen. Zuwenig Schlaf. Ein Flüstern drang über seine spröden Lippen, und erst als er es wiederholte, mit der flehenden Monotonie eines Gebets, gelang es Jupiter, die Worte zu verstehen: »Der Stier brüllt.«
    »Kommen Sie mit nach unten«, sagte Jupiter sanft, »Bitte! Ich verspreche, daß Ihnen nichts geschehen wird. Ich will Ihnen nur ein paar Fragen stellen.«
    Der Mann starrte ihn verstört an.
    »Wie heißen Sie?« fragte Jupiter, und noch einmal, als der Mann nicht antwortete: »Verraten Sie mir Ihren Namen?«
    »Santino.«
    Gut, dachte Jupiter, ein Anfang. »Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich will Ihnen Ihre Tasche nicht wegnehmen. Sie müssen mir auch nicht sagen, was Sie darin aufbewahren. Mich interessiert nur Cristoforo.«
    Santino ließ sich von Jupiter die Stufen hinabschieben, scheinbar willenlos. Und doch spürte Jupiter, daß jede Sehne seines Körpers angespannt war.
    »Cristoforo ist nicht hier«, sagte Santino.
    »Aber er war hier, oder?«
    Sie erreichten die obere Etage. Jupiter deutete den Korridor hinunter, und Santino machte einige Schritte in die Richtung der hinteren Zimmer. Dann aber blieb er unvermittelt stehen und drehte sich zu Jupiter um.
    »Können Sie ihn auch hören?«
    »Wen hören?«
    Santino legte den Kopf schräg und lauschte in die Ferne. Seine Anspannung ließ dabei nicht nach, und Jupiter war mit einem Mal klar, daß nicht er es war, den der Mann derart fürchtete. Santino lief vor etwas ganz anderem davon.
    »Den Stier«, sagte er.

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