Das Haus des Daedalus
empört klingen sollen, aber Coralina konnte die Traurigkeit in ihrer Stimme nicht gänzlich überspielen. Sie umarmte die Shuvani. »Komm mit uns. Bitte.«
»Nein.« Nur dieses eine Wort, aber Jupiter wußte, daß der Entschluß der alten Frau unumstößlich feststand. Sie war zu sehr eine Roma, um etwas, an dem ihr Herz hing, einfach aufzugeben. Ihre Enkelin und dieses Haus waren alles, was ihr geblieben war. Sie wußte, daß sie Coralina nicht halten konnte, und um so größer war ihre Bereitschaft, alles für diesen Laden zu riskieren.
»Nehmen Sie die Scherbe und die Kupferplatte mit«, verlangte Estacado, und als er Jupiters Blick sah, fügte er hinzu: »Ich weiß, daß Ihnen das nicht gefällt, aber es gibt nur einen Ort, an dem ich Sie und Ihren Fund vor den Adepten schützen kann.«
»Sie haben uns noch nicht verraten, was für ein Ort das ist«, sagte Coralina.
»Mein Zuhause«, entgegnete Estacado. »Der Vatikan.«
Bevor Jupiter etwas erwidern konnte, packte ihn die Shuvani flehend am Arm.
»Bitte«, flüsterte sie tonlos.
Der Regen hielt unvermindert an. Fette Wassertropfen platzten auf der Windschutzscheibe des schwarzen Mercedes, als Estacado den Wagen nordwärts steuerte. Die nächtlichen Lichterketten Roms glitten an ihnen vorüber, verschwommen hinter den Regenvorhängen, umrahmt von flirrenden Strahlenkränzen.
Jupiter saß auf dem Beifahrersitz. Er hatte die rechte Hand zur Faust geballt. Sie lag auf der Manteltasche, in der sich der Lederbeutel mit der Tonscherbe befand, für die Babio hatte sterben müssen. Zunächst hatte er Estacado aus den Augenwinkeln beobachtet, doch nach dem ersten Kilometer scheute er sich nicht mehr, den Spanier unverhohlen von der Seite anzustarren.
»Ich weiß, daß Ihnen Ihre Situation paradox erscheint«, sagte Estacado, ohne den Blick von der Straße zu wenden. Die Rücklichter der vor ihnen fahrenden Autos zersplitterten auf der nassen Scheibe zu roten Partikeln. »Der Vatikan mag Ihnen in Ihrer Lage als der denkbar gefährlichste Ort erscheinen. Aber, glauben Sie mir, dort wird man Sie nicht suchen. Und erst recht nicht Ihren Schatz.«
»Was wissen Sie über die Scherbe?« fragte Coralina und beugte sich zwischen den Sitzen vor. Die in Leder geschlagene Kupferplatte lag neben ihr auf der Rückbank.
»Sie ist Teil eines Gegenstands, den die Adepten schlicht die Schale nennen.«
»So was wie ein Heiligtum?«
»Eine Art Relikt«, verbesserte Estacado. »Ein sehr, sehr altes Objekt, das vor langer Zeit in mehrere Teile zerbrach. Die Adepten haben über die Jahrhunderte alle Splitter in ihre Hand gebracht … bis auf diesen einen.«
»Wieso lag die Scherbe in Piranesis Geheimkammer?« fragte Jupiter.
»Weil er selbst einst Mitglied des Bundes war«, entgegnete Estacado. »Aber haben Sie noch ein wenig Geduld. Ich werde Ihnen alles über die Adepten und die Schale erzählen, wenn wir ein wenig mehr Ruhe haben.«
Als wollte jemand seine Worte unterstreichen, schoß vor ihnen eine dunkle Vespa aus einer Seitenstraße, schnitt ihre Fahrtrichtung und verschwand blitzschnell im Regen. Estacado bremste abrupt, um einen Zusammenstoß zu verhindern.
Jupiter schrak ebenso zusammen wie Coralina, aber er bemühte sich, seine Nervosität nicht zu zeigen. Als Estacado wieder beschleunigte, fragte er: »Was erwarten Sie von uns für Ihre Hilfe? Die Kupferplatte? Die Scherbe? Oder beides?«
»Die habe ich doch schon, oder?« Ein ironisches Glitzern erschien in Estacados Augen, als er Jupiters Blick erwiderte. »Wenn ich Ihr Mißtrauen wirklich verdient hätte, glauben Sie dann nicht, daß es mir ein leichtes wäre, beides an mich zu bringen, genau jetzt, in diesem Augenblick?«
Jupiters Hand krallte sich unmerklich um den Lederbeutel in seiner Manteltasche. »Sie müßten zwei Leichen loswerden. Einen wirren Straßenmaler kann man vielleicht in den Fluß werfen, ohne daß jemand Verdacht schöpft, aber mit uns dürfte das schwieriger werden.«
Der Spanier schmunzelte. »Hätte tatsächlich ich diesen Cristoforo ermorden lassen, hätte man ihn nicht gefunden.«
»Das ist komisch«, sagte Coralina bissig, »aber zum ersten Mal glaube ich Ihnen aufs Wort.«
Sie fuhren über die Ponte Umberto, am Justizpalast vorbei und bogen schließlich von der Via Crescenzio in die Via di Porta Angelica, die entlang der Ostseite des Vatikans verläuft. Die Ummauerung des Kirchenstaates mußte an dieser Stelle fünf oder sechs Meter hoch sein, gekrönt von einem mehr als mannshohen
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