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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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anderes erwartet?«
    Coralina setzte die Ellbogen auf die Tischkante und stützte ihr Gesicht in beide Hände. Stumm schaute sie Jupiter an, sagte kein Wort, blickte nur zu ihm herüber und schien den Versuch zu machen, seine Gedanken zu lesen.
    Ob ihr gefiel, was sie entdeckte, verriet sie ihm nicht. Irgendwann schloß sie die Augen und schlief in dieser Haltung ein, starr wie eine der Statuen in den oberen Etagen. Und kein bißchen weniger rätselhaft.

KAPITEL 7

Janus
    Jupiter erwachte, ohne sich bewußt zu sein, daß er überhaupt eingeschlafen war. Er trug immer noch seinen Mantel, lag quer über dem Bett und fror erbärmlich.
    Durch die offene Tür des Kellerraumes wehte ein eisiger Luftzug herein und brachte einen leichten Geruch von Terpentin mit sich.
    Jupiters Hand tastete nach dem Lederbeutel. Er steckte noch immer in seiner Manteltasche. Auch die Platte lag unverändert auf dem Tisch.
    Coralina war verschwunden.
    Sie saß nicht mehr am Tisch, auch ihr Bett war unberührt. Er rief ihren Namen in Richtung des Toilettenvorhangs, doch dahinter regte sich nichts.
    Alarmiert sprang er auf und eilte zur Tür. Der Korridor lag gähnend leer vor ihm. Die Deckenlampen projizierten in weiten Abständen helle Lichtkegel auf das Linoleum; dazwischen war der Kellergang dunkel, so als wären Stücke des Bodens in tiefschwarzen Abgründen versunken.
    »Coralina?«
    Keine Antwort.
    Panik stieg in ihm auf. Sie hatten sich von Estacado wie Vieh zur Schlachtbank führen lassen, und nun waren er und seine Leute gekommen und hatten …
    Der Schlüssel steckte an der Innenseite der Tür.
    Jupiters Blick fiel eher beiläufig darauf, doch als ihm Sekundenbruchteile später klar wurde, was diese Entdeckung bedeutete, lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter.
    Coralina hatte den Raum freiwillig verlassen. Hatte sie etwas Ungewöhnliches gehört? Hatte man sie aus dem Zimmer gelockt? Nein, in beiden Fällen hätte sie ihn geweckt.
    Plötzlich begriff er. Vor seinem inneren Auge liefen die Bilder seiner ersten Nacht in Rom ab, als er sie oben auf dem Dach entdeckt hatte, nur einen Fingerbreit vom tödlichen Sturz in den Abgrund entfernt.
    Sie schlafwandelte wieder. Ausgerechnet jetzt … und an diesem Ort!
    Er schaute auf seine Uhr. Kurz vor eins. Er hatte nicht lange geschlafen. Falls er von einem Geräusch erwacht war, das Coralina verursacht hatte, konnte sie noch nicht weit sein. Aber hätte er sie dann nicht draußen auf dem Gang sehen müssen? Gut möglich also, daß sie schon eine ganze Weile auf den Beinen war.
    Fluchend eilte er zum Tisch und tat etwas ganz und gar Hilfloses: Er nahm die Kupferplatte und schob sie unter die Matratze seines Bettes. Jeder, der danach suchte, würde sie sofort entdecken … aber nach allem, was geschehen war, widerstrebte es ihm, sie offen auf dem Tisch liegenzulassen. Den Lederbeutel behielt er weiterhin in seiner Manteltasche. Falls Estacado recht hatte, ging es den Adepten vor allem um die Scherbe, so daß sie mit dem Fund der Platte zumindest keinen vollständigen Sieg erringen würden.
    Er zog den Schlüssel ab, verschloß die Tür von außen und schlug den Weg nach rechts ein. Er wußte nicht, ob Coralina dieselbe Richtung gewählt hatte. Er verließ sich ganz auf seinen Instinkt. Und auf eine gehörige Portion Glück.
    Das Ende des Korridors war in dem verwirrenden Wechselspiel aus Licht und Schatten nicht auszumachen. Zu beiden Seiten gab es zahllose Türen, vermutlich Archivräume der Bibliothek. Alle waren geschlossen.
    Schließlich gelangte er an ein feuersicheres Stahlschott, das mit einem Rad entriegelt wurde wie Verbindungsluken in einem U-Boot. Es stand weit offen.
    Dahinter lag eine unterirdische Halle. Auf Regalen, die bis zur Decke reichten, befanden sich Tausende und Abertausende von Büchern. Der Geruch nach uraltem Papier und brüchigen Lederrücken war betäubend.
    Jupiter fand neben dem Eingang einen altmodischen Drehschalter, mit dem sich die Hauptbeleuchtung einschalten ließ. Anfangs schien sie mehr Schatten als Helligkeit zu erzeugen.
    »Coralina?« flüsterte er und erhielt abermals keine Antwort. Etwas war anders in diesem Saal, und es dauerte einen Moment, ehe er begriff, was es war: Im Gegensatz zum Kellergang gab es hier kein Echo, nicht einmal einen leichten Nachhall seiner Schritte. Die Bücherregale, in engen Reihen angeordnet wie Särge in einem Leichenschauhaus, schluckten jeden Laut.
    Langsam ging er durch einen Gang, von dem rechts und links die

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