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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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die einzelnen Lampen lagen viel zu weit auseinander, um mehr als jeden dritten oder vierten Seitengang in fahlgelbes Licht zu tauchen.
    Und schließlich, nach nicht einmal einer Minute, erloschen auch sie.
    Die Finsternis war absolut. Die Umgebung versank in Schwärze, und erst jetzt wurde Jupiter klar, daß er sich zwei Stockwerke unter der Erde befand, an einem Ort, wie er dunkler kaum sein konnte. Erneut überkam ihn ein Anflug von Panik. Er war umgeben von Millionen von Büchern, gefangen in einer Gruft aus Papier, und er hatte nicht die geringste Ahnung, in welche Richtung er sich wenden mußte. Die Dunkelheit war jene vollkommene Schwärze, vor der sich Kinder fürchten, wenn sie in den Keller steigen, jene Finsternis, die sie nie erleben, immer nur fürchten, eine imaginäre Gefahr aus ihrer Phantasie. Aber hier, in dieser Halle, war diese Dunkelheit mit einemmal greifbar, erlebbar, und sie schwemmte die alten Ängste aus Jupiters Kindheit empor, geradewegs aus einer Warteschleife seines Unterbewußtseins. Sekundenlang durchlief ihn ein entsetzliches Zittern, ehe seine Vernunft wieder die Oberhand gewann und ihn zwang, zu überlegen.
    Das Licht war aus. Jemand hatte es ausgeschaltet.
    Coralinas Name lag ihm auf den Lippen, aber im letzten Moment hielt er ihn zurück. Es konnte nicht Coralina gewesen sein. Möglich, daß sie im Schlaf den Drehschalter der Hauptbeleuchtung bedienen konnte -aber niemals hätte sie sich an den Sicherungen der Notbeleuchtung zu schaffen gemacht. Jemand hatte gezielt alle Lichter ausgeschaltet. Jemand, der wußte, daß Jupiter hier war.
    Er tastete sich vorsichtig an der Regalwand entlang, spürte das kalte Leder der Buchrücken unter seinen Fingerspitzen und überlegte angestrengt, wie er am schnellsten zurück zum Hauptgang käme. Er war vorhin zweimal rechts abgebogen. Wenn er an der nächsten Kreuzung erneut nach rechts ging, mußte er zwangsläufig wieder den Mittelgang erreichen … es sei denn, die Regale waren nicht in dem üblichen Schachbrettmuster angeordnet, mit Längs-und Quergängen, die sich im rechten Winkel kreuzten.
    Mach dich nicht selbst verrückt! befahl er sich. Doch alle Vernunftsbeteuerungen waren zwecklos. Wenn seine Vorstellungskraft ihm Streiche spielen wollte, würde sie es tun.
    Was waren das für Geräusche, leise, sehr weit entfernt? Es klang wie schnelles Hämmern … wie Getrampel! Das Trampeln von Hufen!
    Er blieb stehen, stocksteif, und lauschte.
    Jetzt war es wieder weg. Er hörte nichts mehr, weder Hufschlag noch menschliche Schritte. Die Bücher schluckten jeden Laut, sogar sein eigener Atem klang fremd und mechanisch.
    Da war es wieder! Hufe! Er täuschte sich nicht. Es klang wie ein Schlachtroß in gestrecktem Galopp, noch weit entfernt, aber allmählich immer lauter, näher.
    Und wieder verstummte es.
    Du machst dir was vor, schalt er sich. Alles, was du hörst, existiert nur in dir selbst. Sei still, geh weiter, mach keinen Mucks. Sonst könnte irgendwer dich hören. Derjenige, zum Beispiel, der das Licht ausgeschaltet hat. Jemand, der es auf dich abgesehen hat!
    Das Regal unter seinen Fingern endete. Sekundenlang tastete er ins Leere, dann berührte er plötzlich etwas Weiches, Warmes, Nachgiebiges. Schlagartig zuckte er zurück, aber jemand ergriff sein Handgelenk und hielt ihn fest. Schmale Finger. Frauenfinger.
    »Coralina?« flüsterte er aufatmend.
    »Psst«, machte sie. »Sei still.«
    »Was ist los?«
    »Irgendwer ist hier.«
    Abermals horchte er in die Finsternis. Zuerst hörte er nichts, doch dann, ganz langsam, wurde ihm klar, daß da tatsächlich Geräusche waren, leise und regelmäßig, nahezu verschmolzen mit dem Rhythmus seines Atems. Schritte! Höchstens zwei, drei Regalreihen entfernt.
    Er konnte Coralinas Umriß nur erahnen, aber sie hielt noch immer sein Handgelenk, halb führend, halb klammernd. Er lauschte auf ihren Atem, doch es schien, als hielte sie ihn an, so vollkommen war die Stille, die sie umgab. Im Gegensatz zu ihr kam er sich laut und unbeholfen vor; sein Herz schlug hart und hörbar gegen seine Brust wie der Springfedermechanismus einer antiken Standuhr.
    Die Schritte kamen von links, und so bewegten sich die beiden vorsichtig in die entgegengesetzte Richtung. Nach wenigen Metern stießen sie gegen eine Bücherwand, die eigentlich nicht hätte hier sein dürfen, wenn Jupiters Theorie einer systematischen Anordnung gestimmt hätte.
    Notgedrungen wandten sie sich nach links. Coralinas Finger lösten sich von

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