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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Regalreihen abgingen, und warf hin und wieder einen Blick zurück. Doch immer, wenn er glaubte, aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrgenommen zu haben, entdeckte er beim zweiten Hinsehen nichts als Staubwirbel, die im Lichtschein der Deckenbeleuchtung tanzten. Weiter hinten verzweigten sich die engen Seitengänge, aber er zögerte, tiefer in dieses Labyrinth aus uraltem Wissen einzudringen.
    Das Unbehagen, das er schon in der Nacht im Laden der Shuvani verspürt hatte, multiplizierte sich hier um ein Vielfaches. Die Menge der Bücher beunruhigte ihn. Es war fast, als könnten ihn die Millionen von Argumenten zwischen den Buchdeckeln zu Dingen verführen, die er nicht tun wollte. Bücher waren Teil seines Berufs, seines Lebens, doch das änderte nichts an der Haßliebe, die er für sie empfand. So wie manch einer Menschenmengen mied, ging Jupiter größeren Ansammlungen von Büchern aus dem Weg. Er empfand ihnen gegenüber die gleiche Scheu, die andere im Angesicht eines Hypnotiseurs verspürten: Er wußte um ihre Macht, zu verführen, zu beeinflussen, Menschen zu verändern. Insgeheim hatte er den irrationalen Verdacht, daß es gar nicht nötig war, sie zu öffnen, um den Geist aus der Flasche zu lassen.
    Als er nach mehr als zwanzig Metern und halb so vielen Abzweigungen noch immer keine Spur von Coralina entdeckt hatte, beschloß er, ungeachtet seiner Unsicherheit weiter in den Irrgarten der Regalreihen einzudringen. Er dachte an Daedalus und an die List der Ariadne, und er wünschte sich einen ähnlichen Faden wie jenen, den sie ihrem Geliebten Theseus gegeben hatte, oder, wenn er die Wahl hätte, ein modernes Äquivalent. Und wenn er schon beim Wünschen war, wie wäre es dann mit einer Waffe, etwas, mit dem er im Notfall zuschlagen konnte? Etwas, das kein schweres, altes Buch war, das einem bei der Berührung seinen Willen aufzwingen mochte wie einen dunklen, vorzeitlichen Fluch.
    Er bog nach rechts in einen der Seitengänge … der neunte oder zehnte auf dieser Seite -, und gelangte nach ein paar Metern an eine Kreuzung. Noch mehr Bücher. Bände über Bände über Bände. Er fühlte sich plötzlich sehr klein und verletzlich.
    »Coralina?« Zweimal, dreimal rief er gepreßt ihren Namen … ohne Erfolg. Wo steckte sie nur?
    Noch eine Kreuzung. Wieder schlug er den Weg nach rechts ein, weil sein Orientierungssinn ihm sagte, daß er auf diese Weise irgendwann zurück zum Eingang des Saals gelangen mußte, zumindest an eine der Wände, die jetzt verborgen lagen hinter den deckenhohen Regalreihen.
    Bald wurde ihm klar, daß er Coralina auf diese Weise niemals finden würde. Vielleicht war sie zurückgegangen und lag längst im Bett. Sie hatte ihm erzählt, daß ihr das daheim häufig passierte … sie erwachte morgens in ihrem Schlafzimmer und erkannte nur an Kleinigkeiten, daß sie in der Nacht unterwegs gewesen war. Möglich, daß es ihr heute genauso erging. Dann würden sie gemeinsam darüber lachen und abwarten, bis Estacado auftauchte, um mit ihm die Geheimnisse der Kupferplatte zu erforschen.
    Immer vorausgesetzt natürlich, Coralina lag tatsächlich in ihrem Bett. Aber irgend etwas sagte Jupiter, daß das nicht der Fall war. Es wäre schlichtweg zu einfach, und nichts war einfach gewesen in den letzten Tagen, nicht seine Aufgabe hier in Rom, nicht die Erinnerungen an Miwa und schon gar nicht seine Gefühle für Coralina. Schlagartig wurde ihm klar, daß er sich nicht nur Sorgen um sie machte … er vermißte sie, vermißte ihr Lächeln, ihre Ernsthaftigkeit, ihren Zynismus, ihre schnippischen Antworten. War das schon der Einfluß der Bücher um ihn herum, gaben sie ihm solche Gedanken ein? Flüchtig schaute er auf die nächstgelegenen Buchrücken. Kein Romeo und Julia, keine große Liebesliteratur. Nur lateinische Titel, in denen es um Glaubenslehre, um Dogmen und ihre Auslegung ging. Nein, es waren nicht die Bücher. Er vermißte Coralina, weil er sie gern hatte, und plötzlich war es gar nicht mehr so schwer, sich das einzugestehen.
    Dann, von einer Sekunde zur anderen, erloschen die Lichter.
    Dunkelheit breitete sich zwischen den Bücherregalen aus. Die Schatten wurden größer, tiefer, bedrohlicher. Jupiter griff instinktiv nach der Strebe einer Regalwand, hielt sich daran fest wie ein Schiffbrüchiger, der fürchtete, die Finsternis könne ihn wie eine Ozeanwoge davonspülen, Treibgut in einem Meer aus Büchern, Büchern, Büchern.
    Die Notbeleuchtung surrte leise wie ein ferner Insektenschwarm, doch

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