Das Haus im Moor
Arme«, sagte sie. »Er hat sie wirklich überall getreten. Guter Gott! Das arme Gesicht … Kannst du sie nicht beruhigen?«
»Wie denn bloß?« Vincent sah sie ratlos an.
»Sieh mal nach, ob es hier irgendwelchen Alkohol gibt«, forderte Sean Hannah auf. »Das wird auch nichts nutzen. Sie braucht einen Arzt. Sie hat einen hysterischen Anfall, und wenn das so weitergeht, kann sonst was passieren.«
»Holt etwas Schnee.«
»Was?« Hannah sah auf Vincent hinunter. Florence fragte erstaunt: »Schnee, Vin?«
»Ja. Bringt mir eine Schüssel voll. Mach schon, Dad.«
Sean war schon auf dem Weg zur Tür, als er sich noch einmal umdrehte und fragte: »Wo finde ich eine Schüssel?«
»Wo findest du eine Schüssel! Was glaubst du denn? Dort hinten.« Hannah rannte in die Küche und kehrte mit einem Plastikgefäß zurück, das sie Sean in die Hand drückte.
Innerhalb von Sekunden war die Schüssel voll mit Schnee. Vincent preßte Constance auf das Sofa, zog das zerrissene Kleid herunter und warf ihr eine Hand voll Schnee auf die nackte Brust. Und noch eine. Das dritte Mal fiel der Schnee Constance mitten ins Gesicht. Jetzt würgte und spuckte sie und rang nach Luft, aber das Jammern hörte auf.
Während die anderen auf ihren sich windenden Körper blickten, sagte Florence: »Bring mir ein paar Handtücher, Hannah, und sieh mal nach, ob es in der Küche Wasser gibt. Wir müssen welches heiß machen. Sie holt sich sonst den Tod.«
Einige Minuten später lag Constance gut zugedeckt auf dem Sofa. Sie sah aus wie eine Tote.
»Wir sollten sie lieber ins Bett bringen«, schlug Florence vor. »Kannst du sie tragen?« Sie sah Vincent an, und er erwiderte: »Oben ist es viel zu kalt. Sie bleibt besser hier. Ihr könntet ein paar Decken herunterholen. Und beeilt euch mit dem Wasser.« Hannah lief wieder in die Küche, und Florence die Treppe hinauf.
Vincent stand jetzt vor dem Sofa und blickte auf Constance hinab. Dann beobachtete er seinen Vater dabei, wie er schweigend die Scherben vom Boden aufsammelte. Er bemerkte, daß der Kaminsims leer war und fragte: »Was ist damit passiert?« Und Sean murmelte leise: »Er hat es ins Feuer geworfen.«
Vincent senkte langsam den Kopf. Das Schaf und das Lamm. Das war nicht nur seine beste Arbeit gewesen, sondern auch ein Talisman, der ein Zuhause symbolisierte. Seit Wochen hatte er die Schnitzerei auf jenem Kaminsims gesehen, für den er sie eigentlich angefertigt hatte, und jetzt war sie in Flammen aufgegangen. Das war das Ende. Er wußte nur noch nicht, wovon.
9
Constance erwachte in den frühen Morgenstunden. Sie hatte am Abend noch ein Beruhigungsmittel bekommen. Florence benutzte das Medikament sonst immer, wenn die Kinder eine Erkältung oder Zahnschmerzen hatten, damit sie schlafen konnten. So hatte auch Constance über sechs Stunden geschlafen. Doch als sie versuchte, die Augen zu öffnen, kam es ihr vor, als lägen Gewichte auf ihren Lidern, und ihre Lippen schmerzten furchtbar, als sie mit der Zunge darüber fuhr. Sie versuchte sich zu erinnern, was geschehen war, aber sie hörte nur ein lautes, heiseres Weinen. Dann hob sie mit Mühe die Lider und sah das flackernde Feuer und die Gestalt, die in einem tiefen Sessel daneben saß. Warum war Hannah hier? Ihre Augen wanderten langsam zur anderen Seite des Kamins, und da saß Vincent. Das Kinn lag auf seiner Brust, und Constance glaubte zu träumen. Das Weinen in ihrem Kopf wurde noch lauter, und sie bekam Angst, bis sie merkte, daß sie ihrer eigenen Stimme lauschte. Plötzlich wurde ihr bewußt, warum sie so geweint hatte: nicht nur weil all die Tränen aus ihr herausgebrochen waren, die sie über Jahre zurückgehalten hatte, sondern auch wegen Vin. Kurz darauf verlor sie wieder das Bewußtsein.
Als Constance das nächste Mal zu sich kam, war der Raum so hell erleuchtet, daß das Licht ihren Augen weh tat. Ein dunkler Schatten dämpfte es für einen Augenblick, und Hannah sagte mit ihrem beruhigenden Akzent: »Da sind wir ja wieder. Sie haben schön geschlafen, meine Liebe. Jetzt möchten Sie bestimmt eine schöne Tasse Tee, und da ist sie auch schon. Wie fühlen Sie sich?«
Als Hannah ihr das Haar aus dem Gesicht strich, hatte Constance das Gefühl, ihr Schädel sei nackt und wund. Sie versuchte, sich zu bewegen, aber es tat weh, und sie stöhnte. Hannah sagte: »Ruhig, ruhig. Seien Sie vorsichtig. Ich hebe Ihren Kopf nur ganz leicht an, dann können Sie Ihren Tee trinken. Und anschließend werde ich Sie mit warmem Wasser
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