Das Haus im Moor
nicht wahr? Es stand Ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie denken, was die anderen jetzt auch denken. Daß alles umsonst war, nicht wahr?«
Seine Stimme war sanft und gleichzeitig drängend. »Erinnern Sie sich daran, daß Sie mich in der Nacht voller Angst angesehen haben?«
Sie sah zu ihm auf. »Wenn … wenn wirklich Angst in meinen Augen zu sehen war, dann war es Angst um Sie, nicht vor Ihnen.«
Er schwieg für eine Weile und fragte dann, immer noch sanft: »Würden Sie mir eine Frage ganz ehrlich beantworten?«
»Wenn ich kann.«
»Glauben Sie, daß ich ihn umgebracht habe?«
Sie zögerte zu lange, und er schnitt ihr das Wort ab: »Schon gut, schon gut, geben Sie sich keine Mühe. Aber wenn man ihn findet, werde ich Ihnen etwas erzählen.«
Damit wandte er sich ab und ging hinaus.
An der Hintertür traf er Hannah, die gerade zurückgekommen war. Sie packte seinen Arm und sagte: »Ach, Vin …« Vincent machte sich los, ging den Hügel hinunter und verschwand in seiner Werkstatt.
10
Am Sonntag suchte eine Gruppe Freiwilliger in der Nähe des Hauses. Constance konnte sie vom Fenster aus beobachten. Dies war nun der dritte Tag. Was immer auch mit Jim geschehen war, er war sicherlich tot, wenn sie ihn fanden. Sie empfand kein Mitleid, keine Trauer. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie es jemals bedauern würde. Die Art und Weise, wie Jim sich benommen hatte, hatte Anteilnahme und Mitgefühl ausgelöscht.
Der Wetterbericht sagte Tauwetter voraus. Constance hoffte, daß es nicht mehr lange dauern würde. Andererseits betete ein Teil von ihr um noch mehr Frost, denn auch nachdem Vincent mit ihr gesprochen hatte, hegte sie noch einen Rest Zweifel.
Am späten Nachmittag waren die beweglichen Punkte von den Hügeln verschwunden. Hannah brachte Tee aus der Küche und sagte: »Das brauchen wir jetzt. Es gibt nichts, was einen besser trösten könnte als eine Tasse Tee, und es gibt kaum eine Stunde am Tag, in der man nicht einen kleinen Trost braucht.«
Sie stellte das Tablett auf den Tisch, schenkte den Tee ein und redete auf Constance ein, die auf dem Sofa saß: »Zu Hause in Irland gab es in unserem Dorf vor vielen Jahren einen alten Priester, der mir mit einer teelosen Woche drohte, sollte ich an einem Freitag noch einmal das Fasten brechen. Guter Gott! Er war schrecklich. Er machte keinen Unterschied zwischen Rind und Schwein. Schweinefleisch war freitags für mich immer eine große Versuchung. Freitags mußte ich einfach Schweinefleisch essen. Ich war wie besessen. Ach ja, die Priester hatten’s immer schwer mit mir. Der alte Vater Lafferty sagte einmal, daß alle Kinder auf dieser Welt unschuldig geboren seien, nur ich nicht. Der war natürlich ein Junge, der Vater Lafferty. Und was die Unschuld betrifft: Habe ich Ihnen eigentlich schon mal den netten kleinen Witz erzählt, wo ein junges irisches Mädel zu seiner Mutter geht und ihr erzählt, daß es immer solche Bauchschmerzen hat, und die Mutter sagt: ›Das ist wahrscheinlich ein Magengeschwür, geh mal zum Arzt …‹« Und Hannah erzählte eine Geschichte nach der anderen und lachte viel dabei. Constance konnte zwar nicht lachen, aber ihre Augen glänzten.
Schließlich wurde Hannah wieder ernst und füllte Constances Teetasse wieder auf. »Trinken Sie den Tee und essen Sie auch eine Scheibe Brot mit Butter. Das wird Ihnen gut tun. Besser als mein ganzes Gerede. Ich versuche nur, Sie ein bißchen aufzumuntern, aber, bei Gott, ich fühle mich auch nicht gerade munter und fröhlich.«
»Sie sind mehr als freundlich, Hannah. Ich weiß nicht, was ich in den vergangenen Tagen ohne Sie getan hätte.«
»Gott hätte für Sie gesorgt, Mädchen, Gott hätte für Sie gesorgt. Ich komme vielleicht nicht immer meinen Pflichten nach, aber ich glaube, daß Er uns niemals verläßt. Egal, wie tief wir auch gesunken sind, sein Geist spricht zu unserem.« Sie schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, ich könnte mich vor Lachen schütteln, wenn ich mich über meinen Geist quasseln höre. Ich sollte über solche Dinge gar nicht reden, das muß man den Gelehrten überlassen und den Priestern, aber … aber wissen Sie was, Mrs. Stapleton, unter der rauhen Schale, die zu den Leuten meiner Klasse gehört, fühle ich eine Art Verbindung zu was-auch-immer-es-sein-mag, nennen Sie es Geist oder wie Sie wollen. Hier drinnen« – sie stach sich mit dem Finger in die Brust – »kenne und verstehe ich es. Nur wenn ich versuche, es in Worte zu fassen, dann verstehe ich es
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