Das Haus in den Wolken
beï¬el sie, neben der Gelöstheit, die sie empfand, wieder dieses Gefühl, vom Schicksal verraten worden zu sein. Was, wenn sie ihn mit der Zeit zu sehr liebte, diesen arroganten rothaarigen Mann, der sich unaufgefordert seinen Weg in ihr Leben gebahnt hatte? Konnte man nicht wählen, wen man liebte? Konnten die eigenen Gefühle nie in Einklang stehen mit dem eigenen Verstand, sich nie der eigenen Selbstbeherrschung fügen?
Nach zwei Wochen in Paris fuhren sie nach Raheen, Richards Geburtsort in County Down in Irland. Wunderbarerweise erwies sich Richards Mutter nicht als der missbilligende Drache, den Isabel erwartet hatte; sie war eine gesprächige, herzliche Frau, die sie freundlich aufnahm und nur gelegentlich Anï¬Ã¼ge des Starrsinns zeigte, den sie an ihren Sohn weitergegeben hatte. Raheen House stand stattlich und imposant, aber sichtlich vernachlässigt keinen Kilometer von der Bucht von Dundrum entfernt. Auf den Spaziergängen am schlickigen Sandstrand, wenn die See sich zurückzog und die rötlich grauen Silhouetten der Mourne-Berge wie eine Luftspiegelung über der Bucht aufragten, erlebte Isabel Augenblicke der Ruhe und der Zufriedenheit.
Trotzdem wühlte Raheen sie auf. Es war, als würden sich bei Nacht die Spinnweben in den halb verfallenen abgelegenen Räumen des Hauses um sie legen und ihre Abwehr schwächen. Sie fragte sich, ob die Nähe der See daran schuld war, dass sie an Broadstairs denken musste, und ob sie auch im Schlaf das Gemurmel der Wellen hörte und das Salz in der Luft schmeckte.
Im Traum lief sie mit den Clarewood-Kindern am Strand entlang. Sie trug ihre Kindermädchenuniform, aber sie war barfuà und spürte den feuchten Sand zwischen den Zehen. Der Kinderwagen rollte leicht über den schimmernden, festen Untergrund; Muscheln und Kiesel sprenkelten das Ufer wie graue und weiÃe Perlen. Vor ihr rannten Adele und Elsie durchs Wasser, dass es glitzernd aufspritzte. Es musste schon später Nachmittag sein, denn die Kasperletheater und die Badewagen waren nicht mehr zu sehen. Die Sonne sank dem Horizont entgegen und färbte die See golden, die Wellen hoben sich mit strahlendem Funkeln.
Dann sah sie plötzlich auf ihre Hände und merkte, dass der Griff des Kinderwagens ihr irgendwie entglitten und der Wagen mitsamt dem kleinen Edward darin verschwunden war, auch die beiden Mädchen waren nirgends zu sehen, und sie stand ganz allein auf dem breiten, leeren Strand.
Isabel erwachte mit tränenfeuchtem Gesicht. Richard neben ihr schlief tief und fest. Mit offenen Augen lag sie in der Dunkelheit; Gedanken an Broadstairs, an die Clarewoods und an Alï¬e wirbelten ihr durch den Kopf.
Sie war siebzehn, als sie Alï¬e Broughton kennenlernte. Sie merkte schon seit einiger Zeit, dass die Männer sich für sie interessierten, und hatte gelernt, ihnen die kalte Schulter zu zeigen. Aber bei Alï¬e war alles anders gewesen. Bis zu dem Tag, an dem sie ihm begegnete, hatte sie keine Ahnung gehabt, was Liebe auf den ersten Blick bedeutete. Sie hatte nicht geahnt, wie glücklich einen das Aufblitzen im Auge des anderen oder der Klang seiner Stimme machen konnten. Wie, fragte sie sich, hätte sich die Katastrophe, die sie wie aus dem Hinterhalt überï¬el, verhindern lassen? Wenn sie ihm an jenem Nachmittag am Strand nicht begegnet wäre? Wenn sie ihn nicht gesehen hätte, als er, nass und glänzend im Sonnenlicht, aus den Wellen stieg? Welcher alte Zauber, vielleicht heraufbeschworen von den Liedern der Sänger und der Wärme der Luft, hatte hier gewirkt und ihre Liebe zu Alï¬e Broughton entfacht?
Isabel Zeale begann im Alter von vierzehn Jahren für die Clarewoods zu arbeiten, bald nach dem Tod ihres Vaters. Ihre Mutter war gestorben, als sie ein halbes Jahr alt gewesen war, und Geschwister hatte sie nicht. Sie bewarb sich um die Anstellung als Kindermädchen bei einer Familie in Broadstairs, weil sie Kinder mochte und, aus dem waldreichen Binnenland kommend, gern ans Meer wollte. Als sie es dann zum ersten Mal sah, tiefblau und seidig und in ständigem Wandel, stand sie wie verzückt da, das Bündel mit ihren Kleidern und den Büchern ihres Vaters an sich gedrückt, während sich um sie herum die Sommerfrischler lärmend vergnügten.
Die Stellung bei den Clarewoods geï¬el ihr, und ihren Schützling, die dreijährige Adele, gewann sie bald lieb. Elsie wurde geboren, kurz
Weitere Kostenlose Bücher