Das Haus in den Wolken
wenig übereilt reagiert. Ich verstehe, dass Du lieber in Cornwall bleiben möchtest â dort bist Du auch viel sicherer, Isabel. Wegen meiner Arbeit und der Bürgerwehr bin ich ohnehin kaum zu Hause, daher wäre es Unsinn, wenn Du zum jetzigen Zeitpunkt nach London zurückkehren würdest.
Unterschrieben hatte er den Brief mit: »In Liebe, Richard.«
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R UBYS A BTEILUNG WURDE EVAKUIERT und aufs Land verlegt, nach Greenhayes Hall, ein Herrenhaus im frostigen Cambridgeshire. Die Luftstützpunkte in East Anglia waren nicht allzu weit entfernt. Oft hörten sie das vielstimmige Dröhnen von Motoren, und wenn sie aufblickten, sahen sie oben am Himmel die Flugzeuge in Formation.
Hätte man Ruby gefragt, mit welchem Wort sie den Krieg charakterisieren würde, wie sie ihn erlebt hatte, so hätte sie »kalt« gesagt. Sie fror immer. Es schien nur zwei kurze Monate in der Mitte des Jahres zu geben, in denen sie nicht fror. Greenhayes Hall stand auf einer niedrigen Anhöhe, über die ständig der Ostwind hinwegpï¬ff. Ruby teilte sich ein Mansardenzimmer mit zwei Arbeitskolleginnen. An den kältesten Tagen hing morgens ihr Atem in Wölkchen in der Luft, und die Strümpfe, die sie am Abend zuvor ausgewaschen hatten, waren am Handtuchhalter brettsteif gefroren. Weil Brennstoff knapp war, brannte nur ein einziges kleines Feuer am anderen Ende des Raums, in dem Ruby zusammen mit einem Dutzend weiterer Frauen arbeitete. Sie türmten Mauern aus Akten um ihre Schreibtische auf, um die Zugluft abzuhalten. Hätte Ruby mit Handschuhen tippen können, sie hätte es getan. So musste sie sie zum eisigen Kampf mit den Tasten jedes Mal ausziehen. Das Essen, das man ihnen zu den Mahlzeiten servierte, war erbärmlich: Brot, Margarine, Brät und Karotten, immer wieder Karotten, so lange, bis sie ihr zum Hals heraushingen. Gekocht wurde von einer mürrischen Frau, die früher bei den Eigentümern des Hauses angestellt gewesen war.
Und nie war man allein. Immer waren die anderen Frauen da, klatschten und schimpften und liehen sich ständig irgendetwas von einem aus â den letzten Lippenstiftstummel, die Haarklemmen, die Kopfschmerztabletten, den Kamm. Das schrille Geplapper am Frühstückstisch und der Geruch billigen Parfums von irgendeinem zwielichtigen Händler in einem Pub. Der dampï¬ge Tiergeruch der Wollsachen, die am Kamingitter trockneten, die ewigen Strümpfe und Höschen auf den im Badezimmer gespannten Leinen. Das Badezimmer war der einzige Ort im Haus, wo man einmal allein sein konnte, und das auch nur so lange, bis jemand an die Tür hämmerte und forderte, man solle sich beeilen, drauÃen sei es eiskalt. Und dann noch das Grammofon, das Tag und Nacht irgendeinen Schlager dudelte, nach dem gerade eine der Frauen ganz verrückt war.
In den kältesten Monaten musste jede Nacht eine von ihnen aufstehen, um die Wasserhähne aufzudrehen und die Toilettenspülungen zu betätigen, damit die Rohre nicht einfroren und platzten. In Schlafanzug, Pullover, Morgenrock und Mantel eingemummt, durchstreifte Ruby mit einer Kerze in der Hand das dunkle Haus von einem Badezimmer zum anderen. Manchen unter den Frauen graute vor ihrer Runde, weil sie in dem groÃen alten Haus Angst vor Gespenstern hatten. In den trostlosen Monaten nach dem Tod ihrer Mutter, als sie nicht mehr schreiben konnte, wäre Ruby um Ablenkung durch ein Gespenst froh gewesen. Einmal, als sie leise und vorsichtig, weil sie ihre Brille am Bett liegen gelassen hatte, durch die holzgetäfelten Räume tappte, bemerkte sie in der Ferne einen grauen Schemen â aber es war nur Mr. Spencer aus der Buchhaltung, und nachdem sie beide ihren Schrecken überwunden hatten, teilten sie sich die Kekse, die seine Frau ihm geschickt hatte.
Als sie schlieÃlich doch wieder schreiben konnte, begann sie, an einer neuen Art Buch zu arbeiten. Die etablierten Verlage hatten wegen der Papierknappheit ihre Programme drastisch beschnitten, und Dutzende kleiner Verlage waren beinahe über Nacht entstanden, um einen Markt zu nutzen, den es vorher nicht gegeben hatte: Tausende gelangweilter junger Männer, die aus Fabriken, von Bauernhöfen und Baustellen geholt und in Militärlager, auf Konvoischiffe oder U -Boote gebracht worden waren, und die â der Gesellschaft von Frauen und manchmal auch der Tröstungen des Alkohols beraubt â dringend Zerstreuung brauchten.
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