Das Haus in den Wolken
hatte? Warum hatte sie nicht gelächelt oder sich vorgestellt oder irgendetwas gesagt? Und was hieà hier Kind â diese Beleidigung ärgerte sie.
Ihre anfängliche Erleichterung, dass Mr. Finborough gekommen war â und ihre noch viel gröÃere Erleichterung darüber, dass er gewusst hatte, was sie mit ihrer Mutter machen sollten (in jüngster Zeit hatte Ruby sich schon gefragt, ob sie beide einfach verhungern müssten) â, ebbte ab, und andere, beunruhigendere Gedanken ergriffen sie. Erneut fragte sie sich, wann ihr Vater nach Hause kommen würde. Und was würde er tun, wenn er das Haus leer vorfand? Dieser Gedanke war ihr erst im Auto gekommen, als sie mit Mr. Finborough nach London fuhr. Was, wenn sie einander nie mehr wiederfanden? Mr. Finborough hatte ihr versichert, er habe auf dem Tisch einen Brief für ihren Vater hinterlassen und einen weiteren im Hause des Nachbarn. Und auÃerdem habe er auf der Post und bei der Polizei eine Nachsendeadresse angegeben.
Aber was würde jetzt, da beide Eltern fort waren, aus ihr werden? Sie begann, sich einsam und überï¬Ã¼ssig zu fühlen, das unangenehme Gefühl der neu Angekommenen stieg in ihr auf, und sie begann zu fürchten, dass sie hier, in diesem wunderschönen und belebten Haus, den Anforderungen vielleicht nicht gerecht werden könnte. Wie lange würde sie bei den Finboroughs bleiben dürfen? Wohin sollte sie gehen, wenn sie sie in ein paar Tagen oder in ein paar Wochen nicht mehr hierhaben wollten? Was, wenn Mrs. Finborough sie überhaupt nicht hierhaben wollte? Denn dafür gab es doch eigentlich gar keinen Grund.
Was, wenn Mrs. Finborough beschloss, sie nach Nineveh zu Tante Maude und Hannah zu schicken? Die Aussicht erfüllte sie mit Schrecken. Seit Ruby denken konnte, waren sie und ihre Mutter zweimal im Jahr nach Nineveh gefahren. Tante Maudes Einladungen, die einem gebieterischen Herbeizitieren glichen, hatten Etta Chance immer in sorgenvolle Unruhe gestürzt. Und die Fahrt nach Nineveh war ihr eine Quelle weiterer Befürchtungen gewesen; sie waren ausnahmslos jedes Mal viel zu früh aufgebrochen und hatten auf dem Bahnsteig stundenlang auf den Zug nach London warten müssen. Und saÃen sie erst im Zug, so hatte sich die Furcht ihrer Mutter sogar noch gesteigert. Rubys Vater hatte sie nie begleitet. Warum, hatte Ruby sich oft gefragt, war ihre Mutter jedes Mal wieder zu Tante Maude gefahren, obwohl sie die Besuche dort so offensichtlich fürchtete und Tante Maude immer so erbarmungslos gemein zu ihr gewesen war? Ihre Mutter hatte sich vermutlich dazu verpï¬ichtet gefühlt, weil Tante Maude ihre einzige Schwester war.
Ruby versuchte sich zu beruhigen. Ihr Vater würde wieder nach Hause kommen, und dann konnte sie in die Easton Road zurückkehren. Noch einmal sah sie den Korridor hinunter zu der geschlossenen Tür. Sie fragte sich, ob Mr. Finborough sie hier wohl zurückgelassen hatte, weil er erwartete, dass sie sich selbst dem Rest des Haushalts vorstellen würde. Aber vielleicht, und das erschien ihr viel wahrscheinlicher, hatte er sie einfach vergessen.
Die Eingangstür wurde geöffnet, und ein junger Mann trat ins Vestibül, groÃ, breitschultrig und unglaublich gut aussehend. Sein kupferroter Schopf wies ihn unverkennbar als einen Finborough aus. Er trug einen Ledermantel, sein Haar war zerzaust, und seine Schuhe und Hosensäume waren schlammbespritzt. Ein frischer Wind wehte mit ihm herein, und es war ein Flair von Energie und Abenteuer um ihn.
Als er seinen Mantel ablegte, entdeckte er Ruby. »Ist alles in Ordnung? Geht es dir gut?«
»Ja, danke. Obwohl ich nicht so genau weiÃ, wo die anderen sind. Oder wo ich sein sollte.«
»Ja, ich ï¬nde auch, dass du ein bisschen verloren wirkst.« Er lächelte und reichte ihr die Hand. »Ich bin übrigens Philip Finborough.«
»Ruby Chance.«
»Chance? Du bist nicht zufällig verwandt mit dem Mann, der meinem Vater das Leben gerettet hat?«
»Doch, ich bin seine Tochter.«
Jetzt lächelte er über das ganze Gesicht. »Wie schön, dich kennenzulernen, Ruby. Hast du Hunger?«
»Ein bisschen.«
»Ich verhungere gleich. Das Essen habe ich vermutlich verpasst. Ich gehe mal nachsehen, ob ich etwas für uns auftreiben kann.«
Als Philip Finborough fort war, schien es ihr, als wäre die Sonne untergegangen. Wieder allein, fragte
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