Das Haus in den Wolken
ganz unverstellt. Sara war die Tochter, die sie sich gewünscht hatte â schön, offen und mit einem liebenswerten, sonnigen Naturell gesegnet. Mit Sara ging Isabel einkaufen und am Abend ins Ballett, mit ihr konnte sie lange Gespräche führen, in denen es um nichts Bestimmtes ging. Saras irische GroÃmutter hatte sie das Reiten gelehrt, von Richard hatte sie das Schwimmen und das Segeln auf der Jolle gelernt, die sie in Cornwall liegen hatten. Isabel selbst hatte Sara Nähen und Kochen beigebracht, Fähigkeiten, die ihrer Meinung nach jede Frau beherrschen sollte, gleich welchen Standes.
Sara war Richards Liebling, sein Augapfel, die Tochter, die er anbetete, verwöhnte und verhätschelte. Schon dem zwölfjährigen Mädchen mit den fein geschnittenen Gesichtszügen und der ungewöhnlichen Farbe von Haar und Augen war anzusehen, dass es eine Schönheit werden würde. Isabel wusste, dass die Mischung aus Schönheit und GroÃzügigkeit, die Sara auszeichnete, eine gefährliche Kombination sein konnte. Schönheit bedurfte der Nüchternheit, sogar der Rücksichtslosigkeit, wenn sie nicht zur Belastung werden sollte.
Und wie würde Ruby Chance sich in diesen Haushalt einfügen? Würde sie ihren Platz ï¬nden oder stets das Gefühl haben, im Schatten der anderen zu stehen, und sich nie ganz wohlfühlen? Nach den ersten Wochen war Isabel voll Zuversicht, dass Ruby bestehen würde. Sie war ein robustes kleines Ding und gewohnt, für sich selbst einzutreten.
Die Neuigkeiten aus dem Sanatorium waren nicht gut â die Ãrzte bezweifelten, dass Mrs. Chance je wieder ganz gesund werden würde â, und bislang hatten auch alle Versuche Richards, Nicholas aufzuspüren, zu nichts geführt. Es gab natürlich noch die Tante und die Cousine in den Fens, aber als Isabel Ruby vorschlug, dass Mrs. Quinn sie doch zum Tee besuchen könne, wenn sie das nächste Mal in der Stadt sei, sah Ruby sie nur ungläubig an und sagte, dass Tante Maude nie nach London fahre und das Reisen an sich überhaupt nicht möge. Isabel beschloss, Mrs. Quinn einen Brief zu schreiben und ihr von Mrs. Chanceâ Krankheit und Rubys Verbleib zu berichten. In ihrem Antwortschreiben entschuldigte sich Mrs. Quinn für ihre eigene angeschlagene Gesundheit, die ihr leider nicht gestatte, ihre Nichte bei sich aufzunehmen. Sie gab der Hoffnung Ausdruck, Ruby werde Mrs. Finborough keine zu groÃen Schwierigkeiten bereiten und sie â ihre Tante â wie gewohnt im Sommer besuchen.
Ruby wuchs Isabel mit der Zeit ans Herz. Das junge Mädchen und sie hatten einiges gemeinsam. Sie erkannte bei Ruby ihre eigene misstrauische Vorsicht, der die Erwartung zugrunde lag, dass die guten Zeiten ja doch nicht von Dauer sein würden. Sie fühlte sich seelenverwandt mit Ruby, die wie sie wusste, was es hieÃ, verlassen zu sein.
Ruby betrachtete es nie als selbstverständlich, dass sie mit der Zeit ganz in das alltägliche Leben im Hause Finborough einbezogen worden war. Es erschien ihr stets wie ein Wunder, wie eine Rettung. Sie ging mit Sara zur Schule und mit Isabel einkaufen und begleitete jeden, der gerade den derzeitigen Tolly im Park von Hampstead ausführte. Sie hatte Sara geholfen, ihr Kaninchen in einem Schuhkarton zu beerdigen, »richtig trauervoll«, wie Sara es ausgedrückt hatte, und hockte neben Philip, als er in der Garage den Motor seines Motorrades entruÃte. Und auch an den Rhythmus des Familienlebens gewöhnte sie sich langsam, an Richards Geschäftsreisen auf den Kontinent und an die Abwesenheit von Philip und Theo, wenn die beiden im Internat waren.
Rubys Stärken waren ihr wacher Geist und ihre scharfe Zunge. Vor langer Zeit schon hatte sie gelernt, ihre Ansichten zu verbergen, denn sie hatte bald erkannt, dass es nicht nur Ansichten gab, die geï¬elen, sondern auch solche, die missï¬elen. Die exzentrischen Eigenheiten der Finboroughs, ihre seltsamen Freunde, ihr Lärmen, ihre regelmäÃigen Streite, oft beim Dessert (Streitereien beim Dessert waren ihnen fast zur Gewohnheit geworden, sodass knusprig braune Apfeltörtchen nicht angeschnitten wurden und Wackelpudding durchscheinend und unversehrt vor sich hin zitterte) â all das trug nur zu ihrem Zauber bei. Die Eigenheiten von Rubys eigener Familie besaÃen dagegen nicht den geringsten Zauber. Die Abwesenheiten ihres Vaters und die Tränen ihrer Mutter,
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