Das Haus in den Wolken
hat Tante Maude erzählt. Bei einem Sturm ist ein Deich gebrochen. An einer Scheune haben sie eine Marke angebracht, die anzeigt, wie hoch das Wasser gestiegen ist.«
Nach einer Meile bog hinter einem Gebüsch ein Trampelpfad von dem Feldweg ab. Räder von Fuhrwerken hatten zwei tiefe Furchen hineingegraben, auf dessen Mittelstreifen Gräser und Nesseln wucherten. Holunderbüsche wuchsen auf den feuchten, moosigen Böden, und Pilze streckten violettbraune Köpfe aus der Erde. Als sie das Gebüsch hinter sich lieÃen, konnten sie über das Feld hinweg bereits den Hof erkennen.
»Das ist es«, sagte Ruby. »Das ist Nineveh.«
Der Wind frischte auf und blies ihnen kräftig entgegen, als sie das Feld überquerten.
»Wie ist denn deine Cousine so?«, fragte Theo.
»Hannah? Ganz nett. Sie sagt nicht viel.«
»Wie alt ist sie?«
»Zehn.«
»Und dein Onkel?«
»Onkel Josiah ist vor einer Ewigkeit gestorben, im Krieg. Ich kann mich überhaupt nicht an ihn erinnern.«
Als sie Hundegebell hörte, wappnete Ruby sich innerlich. Tante Maudes Hunde waren vielleicht nicht glutäugig, aber immer bösartig. Auf dem Hof wehte ihnen der stechend scharfe Geruch von Tieren und Dünger entgegen. Eine Gans rannte mit gerecktem Hals zischend auf sie zu, und Ruby scheuchte sie weg.
Schwarze Hunde strichen über das Kopfsteinpï¬aster, eine Stimme schrie: »Tom! Malachi!«, und Ruby sah auf.
Maude Quinn war eine breit gebaute, imposante Frau und groà wie ein Mann. Ihr braunes Haar war in krausen Löckchen mit vielen Haarnadeln auf ihrem Kopf festgesteckt. Sie trug, wie immer, ein schwarzes Kleid. Der steife, glänzende Stoff von Tante Maudes Kleidern erinnerte Ruby stets an die harten Panzer von Käfern.
Sie hörte, wie Theo neben ihr nach Luft schnappte, und sah, dass Tante Maude ein Gewehr in Händen hielt. Einen Moment schwenkte das Gewehr in ihre Richtung, und sie blickten in das schwarze Loch der Mündung.
Dann senkte Tante Maude es wieder und sagte: »Ich dachte, es wäre ein Wepps.«
»Nein, Tante Maude.« Ruby überquerte den Hof und durfte ihrer Tante einen Kuss auf die Wange geben.
»Tante Maude, das ist Theo Finborough.«
Zu Rubys Erleichterung schien Theo Tante Maude zu gefallen. »Wie freundlich von Ihrer Familie, sich meiner armen Nichte anzunehmen«, säuselte sie.
Nineveh war ein groÃes, dreistöckiges Bauernhaus aus gelbem Cambridgeshire-Stein. Drinnen waren die Zimmer durch einen schlecht beleuchteten, verwinkelten Flur verbunden, der sich in der Dunkelheit verlor. Unvorsichtige Besucher liefen leicht einmal gegen einen Stuhl oder eine Truhe, die in einer düsteren Ecke platziert waren. An den Wänden hingen vergilbte Fotograï¬en, und die Drucke waren durch die Feuchtigkeit so von Stockï¬ecken übersät, dass die Porträtierten einen wie durch einen Sandsturm anzuspähen schienen.
»Wir bekommen so selten Besuch in Nineveh«, sagte Maude zu Theo. »Nur der Pastor â und Dr. Piper kamen regelmäÃig vorbei, aber er ist letztes Jahr gestorben, und der Neue ist Methodist, fürchte ich.«
Sie gingen ins Wohnzimmer. Auf hohen Anrichten standen groÃe Becher und bemalte Teller aus Steingut, in Glasvitrinen prangte feines Porzellan mit Goldrand und winzigen Blumenmustern.
Hannah sprang auf, als sie eintraten. Maude sagte streng: »Steh da nicht herum, Mädchen, und starr Löcher in die Luft. Denk an deine Manieren.« Stammelnd brachte Hannah eine BegrüÃung hervor.
Etta Chance hatte, als sie Nineveh wieder verlieÃen, einmal gesagt: »Die arme kleine Hannah, sie sieht immer so ausgelaugt aus.« Dieser Satz hatte sich Ruby ins Gedächtnis gegraben. Alles an Hannah wirkte ausgelaugt â ihre bleiche sommersprossige Haut, ihr dünnes hellbraunes Haar, sogar das Muster ihres Baumwollkleids. Hannah war schmächtig, ein paar Zentimeter kleiner als Ruby, und wenn sie redete, klang ihre Stimme immer tonlos und gehetzt. Ihr Blick stand keinen Moment still. Ruby fand sie recht langweilig und lästig.
Bei einem Mittagessen mit Schinken, Kartoffeln und Bohnen beschwerte Tante Maude sich zuerst über die schlechte Ernte, zu niedrige Milchpreise und das unzumutbare Wetter, bevor sie schlieÃlich fragte: »Und wie geht es deiner Mutter, Ruby?«
»Schon besser«, erwiderte Ruby.
»Wirklich?« Tante Maude verzog den
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