Das Haus in den Wolken
die plötzlichen Abstürze in quälenden Geldmangel und natürlich Tante Maude â all das war einfach nur beschämend. Solche Schwächen hängte man am besten nicht an die groÃe Glocke, damit machte man sich bei niemandem interessant.
Einmal im Monat, an einem Sonntag, fuhr Isabel mit Ruby ins Sanatorium in Sussex. Ihre Mutter sah jetzt anders aus, ihre Kleidung war ordentlicher und ihr Gesicht nicht mehr so schmal. Sie stellte Ruby Fragen und schien auch Rubys Antworten zuzuhören, doch Ruby spürte, welche Mühe sie das Gespräch kostete, und stellte sich vor, dass irgendeine wohlmeinende Krankenschwester ihrer Mutter all diese Sätze beibrachte, sie dann in ihren Stuhl setzte und ihr sogar noch das zaghafte Lächeln ins Gesicht klebte.
Bei jedem Besuch sagte ihre Mutter: »Und Nicholas â ich warte schon so lange â Sie haben doch sicher von Nicholas gehört?« Und jedes Mal erwiderte Isabel, dass es ihrem Mann bislang leider nicht gelungen sei, seinen alten Freund aufzuspüren, es aber immer noch eine Reihe von Hinweisen gebe, denen nachzugehen sich lohne â woraufhin Rubys Mutter stets mit einem »Oh« ein wenig in sich zusammensackte wie ein Ballon, den man mit der Nadel angepikst hat. Auf der Zugfahrt nach Hause tat Ruby, als läse sie in ihrem Buch, blätterte hin und wieder um, wie es sich gehörte, während es in ihr brodelte vor Wut und Kummer darüber, dass sie selbst nur irgendwo am Rande des Herzens ihrer Mutter existierte, in deren Leben keine wichtige Rolle spielte und dass der einzige Mensch, von dem sie sich wirklich geliebt glaubte, sie mit einem letzten Blick zurück und einem Winken einfach verlassen hatte.
Ihr Geburtstag kam und ging, der Geburtstag ihrer Mutter, und immer noch war ihr Vater nicht zurückgekehrt. Im August fuhr Ruby mit den Finboroughs nach Cornwall. Ein Strom von Isabels Freunden folgte ihnen, ein Sammelsurium von Dichtern, Malern und Musikern aus Hampstead, die alle, behauptete Sara, heimlich in ihre Mutter verliebt seien und die Tage müÃig am Strand verbrachten oder in den Felsen saÃen und zeichneten. Ruby sah, dass die Finboroughs die nahe gelegene kleine Bucht als ihr Eigentum betrachteten: Wanderer, deren Weg an diesem Sandstrand entlangführte, wurden mit kühlen Blicken bedacht und nur widerwillig gegrüÃt.
In Porthglas tauschten sie alle ihre Londoner Kleidung gegen Baumwollkleider oder Hemden und kurze Hosen und Sandalen. Das Haus, das die Familie klein fand, stand allein auf einer felsigen Anhöhe. Die Farbe der Holzbalken war zu Silbergrau verblichen, und die Mauern â bunte Flickarbeit aus Steinen, Holz, Stroh und Lehm â schienen wie aus dem Erdboden gewachsen zu sein. Die Zimmer waren in Pastellfarben getüncht, und die einfachen Holzmöbel waren geschrubbt oder weià lackiert. Muscheln, bizarre Treibholzstücke und Kiesel lagen, zu Mustern angeordnet, auf den Fensterbänken und Kaminsimsen. Pï¬anzen, deren Blätter auf Holzdielen oder Steinböden hinabï¬elen, rankten um die Fenster. Ruby erkannte, dass dieses unprätentiöse, heitere Haus ganz Isabels Haus war, so wie das Londoner Haus mit seinen hellen warmen Farben und all dem Lärmen das von Richard.
Einiges in Cornwall geï¬el Ruby, anderes weniger. Die Jolle, die Philip, Theo und Sara segelten, geï¬el ihr gar nicht, weil sie seekrank wurde. Und auch das Schwimmen im Meer machte ihr längst nicht so viel Freude wie den anderen, weil ihr, anders als den Finboroughs, das Wasser zu kalt war. Sie saà lieber mit einem Buch in der Hand auf einem Felsen am Rande der Bucht und lauschte dem Schlag der Wellen.
Ende August, kurz nachdem sie nach London zurückgekehrt waren, traf ein Brief von Tante Maude ein.
Isabel sah vom Frühstückstisch auf. »Ruby«, sagte sie, »dieser Brief hier ist von deiner Tante, Mrs. Quinn. Sie bittet dich, sie am nächsten Dienstag zu besuchen.«
Ruby sagte entsetzt: »Nein, bitte, ich will da nicht hin.«
»Ich fürchte, du musst, Ruby. Mrs. Quinn ist eine nahe Verwandte von dir. Und hast du dort nicht auch eine Cousine?«
»Ja, Tante Isabel«, erwiderte Ruby bockig.
»Das ist doch nett«, sagte Isabel, und Ruby dachte, ja, das könnte man meinen, nicht?
Dann lieà Isabel ihre zweite Bombe platzen. »Theo kann dich begleiten«, sagte sie, ehe sie ihre Post zur Hand nahm und einen kurzen Blick in die
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