Das Haus in den Wolken
bot nicht nur Tausenden von Arbeitern menschenwürdige Wohnungen, zu ihm gehörten auch zahlreiche Gemeinschaftseinrichtungen wie Kindergärten, Arztpraxen, Bibliotheken, Wäschereien und Spielplätze. Er erzählte ihr, dass während des Bürgerkriegs die Nazis den Karl-Marx-Hof mit Artilleriefeuer beschossen hatten, um den Widerstand der letzten »Roten Bastion« zu brechen.
Er versuchte nie, sie zu küssen oder ihre Hand zu halten, und sie hatten nie wieder Gelegenheit, in Soho Kaffee zu trinken. Wenn sie ihm fern war, schwand die Gewissheit, dass er sie mochte. Anton war zu jedem höflich und liebenswürdig â vielleicht, dachte sie, hatte sie sich nur eingebildet, an ihr wäre ihm mehr gelegen als an den anderen.
Im Januar gab Ruby zur Feier ihres neunzehnten Geburtstags ein Fest. Isabel erlaubte Sara, bei den Vorbereitungen zu helfen und danach noch eine Weile zu bleiben. Ein befreundeter Künstler hatte Ruby sein Atelier im ersten Stock zur Verfügung gestellt. Es war gröÃer als ihr Zimmer und leer bis auf eine Staffelei, einen Schragentisch und eine schmutzige Matratze. Sie legten eine bunte Decke über die Matratze und schleppten Rubys eigene Matratze nach unten, um mehr Sitzgelegenheiten zu schaffen. Blaue und rote Krepppapierbänder wurden an die Wände geheftet, um die Farbkleckse zu verdecken, und der Schragentisch diente als Buffet â mit Wurst, Käse, Schokolade und einer Götterspeise, in der wie orangefarbene Meerestiere Mandarinenschnitze schwebten. Jemand erbot sich, ihnen ein Klavier zu leihen, und vier Männer hievten es mit hochroten Gesichtern die Treppe hinauf.
Sara hatte Ruby drei Paar Seidenstrümpfe und einen knallroten Lippenstift gekauft. Isabel und Richard schenkten ihr ein Paar Lederhandschuhe und eine Brosche, und ihre Mutter hatte ihr eine Jacke gestrickt. Nicht zum ersten Mal ging Sara der Gedanke durch den Kopf, wie schlimm es für Ruby sein musste, selbst an ihrem Geburtstag nicht einmal eine Karte von ihrem Vater zu bekommen.
Um acht trafen die ersten Gäste ein. Auf dem Grammofon lief Musik von Cole Porter; sobald eine Platte zu Ende war, setzte sich ein kleiner, glatzköpï¬ger Mann ans Klavier und spielte laut und leidenschaftlich Liszt. In der Mitte des Ateliers wurde Platz freigemacht, und man tanzte. Zwischen den Beinen der Tänzer rannte kläffend ein Dackel hin und her.
»Ich dachte schon, du würdest vielleicht nicht kommen, weil du Feste nicht magst«, sagte jemand hinter ihr, und Saras Herz setzte einen Schlag aus.
»Hallo, Anton«, sagte sie dann.
Sie redeten und tanzten miteinander, und dann zog Sara ihren Mantel an, und sie verlieÃen gemeinsam das Fest. Sie gingen zur Putney Bridge. Das Ufer der Themse blieb zurück, als sie sich der Mitte der Brücke näherten. Unten ï¬oss der dunkle Strom, die groÃe Verkehrsader, die durch das Herz der Stadt führte. Ein Schiff verschwand unter den Bögen, und das Lampenlicht spiegelte sich im Wasser.
Als er zart ihr Gesicht berührte, schien in ihrem Inneren etwas zu schmelzen, und als er sie küsste, schloss sie die Augen. Der Verkehrslärm und der Lichtschein der Lampen traten zurück, ihr ganzes Leben war hier gebündelt, in seiner Umarmung.
Als sie sich schlieÃlich voneinander lösten, kam ihr plötzlich ein schrecklicher Gedanke, und bemüht scherzhaft sagte sie: »Du küsst wahrscheinlich immer Mädchen auf der Putney Bridge.«
»Immer. Oder auf der London Bridge oder der Battersea Bridge, es ist mir egal.« Er küsste sie wieder. Der Kuss war innig und leidenschaftlich. Nach einer Weile sagte er: »Das wollte ich tun, seit ich dich das erste Mal gesehen habe.«
»Warum hast du dann so lange gewartet?«
»Ich wusste nicht, ob du es auch willst. Du bist wie ein Traum, Sara â ein wunderschöner Traum, aber eben ein Traum. Einen Tag bist du hier, den nächsten nicht â immer wenn ich innehalte, um dich anzusehen, verschwindest du. Und du scheinst immer so glücklich zu sein, ganz gleich, was in der Welt geschieht.«
»Du ï¬ndest nicht, dass ich ein ernsthafter Mensch bin?«
»Nein, gar nicht«, antwortete er lächelnd.
Sara hörte die Kirchenglocken läuten. Sie schaute ungläubig auf ihre Uhr. »Es ist schon zehn«, rief sie entsetzt. »Bestimmt ist mein Vater schon da.«
Sie kehrten zu Rubys Haus zurück. Sara erkannte
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